Selbstversuch

"Eine Privatsphäre wird nicht mehr existieren"

Blogger gibt Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf
Von dpa / Jennifer Buchholz

Ist ein Leben ohne Privatsphäre mutig oder wahnsinnig? Ist ein Leben ohne Privatsphäre mutig oder wahnsinnig?
Bild: dpa
Die Angst, ein gläserner Bürger zu sein, hat Christian Heller überwunden. Der Berliner steht gerne splitter­nackt da, zumindest was seine Daten angeht. "Big Brother is watching you", steht auf einem Poster in seiner Ein­zimmer­wohnung in Friedrichs­hain. Tat­sächlich hat Heller kein Problem mit Dauer­be­ob­achtung. Der 28-Jährige stellt seine Daten für alle sicht­bar ins Inter­net. Großer Lausch­angriff, PRISM, NSA-Affäre? Heller geht in die Offensive, indem er seine digitalen Hosen frei­willig herunterl­ässt.

Seine Ver­öffentl­ichungen reichen vom Termin­kalender über den Stand persönlicher Finanzen bis hin zu Aus­künften über sein Sexual­leben. "Post-Privacy-Experiment" nennt Heller sein Projekt. Seit mehreren Jahren protokolliert er akribisch seinen kompletten Tagesablauf und veröffentlicht alles auf seiner Webseite www.plomlompom.de als "PlomWiki". "Daran habe ich eine große Freude", sagt Heller. "Meine Philosophie ist, dass Daten umso nützlicher sind, je öffentlicher sie sind."

15.55 Uhr: "Döner verzehren, danach Schoko-Pudding", 18.40 Uhr: "LSD-Trip-Notizen fein­zurren, publizieren": Viele Ein­träge in Hellers "Wiki-Gehirn" sind Banal­itäten. Der Berliner glaubt auch nicht wirklich, dass sehr viele Menschen seine Einträge läsen. Auf Zugriffs­statistiken für seine Web­seite schaue er nicht, meint er.

Sein Experiment ist grund­sätz­licher Natur. Spätestens seit der NSA-Affäre ahnen die Bürger, dass ihre Privatsphäre, ihr Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung möglicher­weise schon lange eine Illusion ist. Staatliche Über­wachung scheint in großem Stil Praxis zu sein. Aber die Menschen tragen auch selbst zu ihrer Gläsern­heit bei: In sozialen Medien breiten viele mit Be­geisterung ihr Privat- und Intimleben aus.

Prima leben ohne Privatsphäre?

Ist ein Leben ohne Privatsphäre mutig oder wahnsinnig? Ist ein Leben ohne Privatsphäre mutig oder wahnsinnig?
Bild: dpa
Christian Heller gehört einer Bewegung an, die diesen gesellschaftlichen Zustand als "Post-Privacy" bezeichnet. Sie fragt, ob man sich im digitalen Zeitalter weiter für eine Privatsphäre einsetzen sollte oder - angesichts der Unmengen von Daten im Internet und des technischen Fortschritts - den Datenschutz nicht einfach aufgeben sollte. "Post-Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre" heißt ein recht erfolgreiches Buch von Heller, das sich mit der Theorie der Privatsphäre als Auslaufmodell beschäftigt. Auch Vorträge hält der Blogger und schreibt Fachartikel über das "digitale Menschenbild".

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar findet Hellers Thesen "naiv und gefährlich". Unterdrückungspotenziale würden heruntergespielt, die mit der alltäglichen Überwachung einhergingen. "Pressemeldungen über Überwachungsstaaten lassen nur erahnen, in welchem Ausmaß Datenströme kontrolliert, zensiert und manipuliert werden können", schreibt Schaar in einer Rezension über Hellers Buch.

"'Machen wir das Beste daraus' heißt für mich nicht, derlei Entwicklungen achselzuckend hinzunehmen." Vielmehr müsse der Weg in die demokratische Informationsgesellschaft gestaltet werden, mahnt Schaar. "Dieser Anspruch umfasst rechtliche wie technologische Gestaltungsprinzipien, um die Rechte der Netzbürger - darunter das Recht auf Privatsphäre und auf informationelle Selbstbestimmung - auch im 21. Jahrhundert zu gewährleisten."

Auch Verfechter von Transparenz sehen die Post-Privacy-Idee kritisch. Während Informationen des Staates - etwa über öffentliche Aufträge oder Ausgaben - transparent seien sollten, müssten private Daten geschützt werden, meinen sie.

Für Heller leistet die Post-Privacy-Debatten einen Beitrag zu den Bemühungen, das Zusammenleben der Zukunft zu gestalten. Transparenz könne auch nützen, staatliche Macht zu kontrollieren, meint der Blogger. Außerdem müsse die Gesellschaft toleranter werden: Denn mit der bevorstehenden "massenhaften Entblößung von Eigenschaften" werde bald manches Tabu, manches Geheimnis des Nachbarn ans Tageslicht kommen. "Eine Privatsphäre wird nicht mehr existieren", sagt Heller mit erstaunlicher Gleichgültigkeit. Anderen wird dieses Zukunftsszenario wohl eher Angst machen.

Weitere Meldungen zum Thema PRISM

Weitere Meldungen zur Überwachung des Datenverkehrs