Editorial: Die beste Verschlüsselung ...
Anøm-Handys hatten sich unter Gestalten der Halb- und Unterwelt in den vergangenen Monaten zunehmender Beliebtheit erfreut. Ausgestattet mit einem speziellen Betriebssystem, das keine anderen Anwendungen außer dem verschlüsselten Anøm-Messenger erlaubt, galten sie als besonders sicher. Und so tauschten sich die Kriminellen auf Anøm freimütig über bevorstehende Drogenlieferungen und geplante Morde aus.
Was die Gangster nicht wussten: In Anøm war eine Hintertür für die Behörden eingebaut. Alle Nachrichten wurden an einen Server des FBI gesendet und dort entschlüsselt. Die ersten Anøm-Handys waren schon 2018 gezielt unter Kriminellen verteilt worden, vor allem in Australien. Mit der Zeit gewann der Dienst dennoch das Vertrauen der Drogensyndikate und damit an Popularität. Insbesondere nachdem es europäischen Behörden 2020 gelungen war, das konkurrierende Netzwerk EncroChat zu brechen und den Gründer des ebenfalls an Kriminelle gerichteten Chat-Dienstes Sky Global zu verhaften, stieg der Bedarf an Anøm-Handys. Zuletzt waren fast 12 000 Anøm-Smartphones bei 300 Syndikaten im Umlauf, über die zusammen 20 Millionen Nachrichten ausgetauscht worden waren. In Deutschland waren die Geräte wohl besonders beliebt.
Bevor die Hintertür in Anøm auffliegt, und wohl auch, weil die gerichtliche Erlaubnis für den Betrieb von Anøm in einem dritten, ungenannten Land auslief, entschlossen sich die Behörden vor einer Woche zum Zugriff. Alleine in Australien wurden 224 Personen verhaftet, sechs Untergrund-Drogenlabore geschlossen und 45 Millionen Australische Dollar beschlagnahmt. Insgesamt gab es 800 Verhaftungen in 17 Ländern. Zudem wurden tonnenweise Drogen sichergestellt. In Schweden wurden den Angaben zufolge über zehn geplante Morde verhindert.
Mit List und Tücke gegen List und Tücke
Zuletzt waren fast 12 000 Anøm-Smartphones bei 300 Syndikaten im Umlauf
Bild: picture alliance/Sebastian Gollnow/dpa
Anøm dürfte wohl einer der größten Schläge weltweit gegen das organisierte
Verbrechen sein. Zwar war es schon in der Vergangenheit
gelungen, von den Kriminellen verwendete "anonyme" Messengerdienste
zu brechen und so an wichtige Informationen für die Ermittler zu
kommen. Andererseits dauert es meist nicht lange, bis sich in der Szene
herumspricht, dass ein Netzwerk kompromittiert wurde, und die Täter
auf Alternativen ausweichen.
Die Idee, den "sicheren" Messenger-Dienst selber zu betreiben, liefert den Behörden hingegen Material in Hülle und Fülle, das wahrscheinlich sogar noch für deutlich mehr als die genannten 800 Festnahmen ausreichen wird. Die Idee bedeutet aber auch, dass Behörden gezielt lügen müssen, und zwar sowohl in der Anfangsphase, in der sie über V-Männer die Geräte in der Szene verteilen, als auch später, wenn sie die über Anøm ausgetauschten Nachrichten zunächst nicht auswerten, um in der Szene kein Misstrauen aufkommen zu lassen. Letztendlich werden die Ermittler sogar so weit gegangen sein, Morde geschehen zu lassen - nur, um später noch mehr Morde verhindern zu können, wenn noch mehr Gangster in Anøm investiert hatten. Denn die Geräte wurden in der Szene verkauft. Die Kriminellen mussten sogar monatliche Abogebühren dafür bezahlen, dass sie ihre Daten direkt auf die Server der Polizei überspielen durften.
In tausenden anstehenden Strafverfahren dürfte dieses einer der wesentlichen Punkte sein, über die die Strafverteidiger mit den Richtern diskutieren werden: Inwieweit darf der Staat die eigenen Gesetze brechen - insbesondere Geld für einen bewusst kompromittierten Sicherheitsdienst kassieren - und zugleich von seinen Bürgern verlangen, sich an ebendiese Gesetze zu halten. Am Ende wird also Unrecht gegen Unrecht aufgewogen werden, und das geht meist nur gut, wenn das eine Unrecht (Mord und Totschlag, Drogenhandel) gegen das anderen Unrecht (wirtschaftlicher Betrug, Bruch der Vertraulichkeit) geringer wiegt. Wenn die Berichte stimmen, was für Nachrichten über Anøm ausgetauscht wurden, dann sind die Kriterien aber hier erfüllt. Am Ende gewinnt sogar die Allgemeinheit: Je besser und öfter es gelingt, kriminelle Netzwerke über gezielte Angriffe auf deren vertrauliche Kommunikation auszuhebeln, desto weniger sind Politiker geneigt, die Vertraulichkeit aller Kommunikation infrage zu stellen. Signal, Threema und Co. bleiben also sicher.