Nicht vertragskonforme Leistungen bei mobilem Internet
Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott
Bild: Torsten J. Gerpott
Mit der Novelle des TKG 2021 wurden neue Rechte für Verbraucher bei Abweichungen zwischen den vertraglich vereinbarten maximalen Down- und Upload-Raten
und der tatsächlichen Leistung für einen Internetzugang über Fest- oder Mobilfunknetze geschaffen.
Zur Konkretisierung solcher Abweichungen im Mobilfunk hat die BNetzA am 25. August 2022 Eckpunkte vorgeschlagen. Dieser Beitrag zeigt, dass bei dem Vorschlag erheblicher Änderungsbedarf besteht.
Verbraucherschutz bei Geschwindigkeitsabweichungen
Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott
Bild: Torsten J. Gerpott
Der deutsche Gesetzgeber meint es gut mit Kunden von Mobilfunk- und Festnetzdiensteanbietern. Die Schutzrechte von Verbrauchern, die Verträge mit solchen Anbietern abschließen,
wurden in den letzten Jahren im Hinblick auf Angebotstransparenz, Vertragslaufzeit und Kündigungshürdenabbau merklich verstärkt.
Zu den bei der letzten Novelle des Telekommunikationsgesetzes (TKG) im Dezember 2021 neu verankerten Verbraucheransprüchen gehören gemäß § 57 Abs. 4 TKG Sonderkündigungs- und Entgeltminderungsrechte ohne vorherige Fristsetzungen bei "erheblichen, kontinuierlichen oder regelmäßig wiederkehrenden Abweichungen" zwischen der von einem Anbieter vertraglich benannten maximalen Down- bzw. Upload-Geschwindigkeit (MDG bzw. MUG) und der tatsächlichen Leistung eines Internetzugangs (IZ) über Mobilfunk- oder Festnetze.
Im Europarecht wurden derartige Abweichungen, die im Folgenden als auch als Liefertreue bezeichnet werden, schon 2015 in der Verordnung (EU) 2015/2120 (Netzneutralitätsverordnung [NNVO]) mit dem Ziel aufgegriffen, Endnutzern einen unbeschränkten Zugang zum offenen Internet zu gewährleisten. Art. 4 Abs. 1 lit. d NNVO verpflichtet IZ-Anbieter als Transparenzmaßnahme zur Bereitstellung "eine[r] klare[n] und verständliche[n] Erläuterung, wie hoch ... die maximale ... Download- und Upload-Geschwindigkeit von Internetzugangsdiensten bei Festnetzen oder die geschätzte maximale ... Download- und Upload-Geschwindigkeit von Internetzugangsdiensten bei Mobilfunknetzen ist und wie sich erhebliche Abweichungen von der jeweiligen beworbenen Download- und Upload-Geschwindigkeit auf die Ausübung der Rechte der Endnutzer gemäß Artikel 3 Absatz 1 auswirken könnten".
Liefertreue von IZ-Anbietern: BNetzA-Breitbandmessung
Empirische Daten zum Ausmaß der Liefertreue von IZ-Anbietern im Hinblick auf die von ihnen vertraglich festgehaltenen (geschätzten) maximalen Empfangs- sowie Sendegeschwindigkeiten werden seit 2017 von der Bundesnetzagentur (BNetzA) in Jahresberichten zur Breitbandmessung dokumentiert.
Dort stellt die Behörde statistische Auswertungen von Geschwindigkeitsmessungen zusammen, die Nutzer von stationären oder mobilen IZ per Browser- oder Desktop-App angestoßen haben, und vergleicht sie mit von den Nutzern angegebenen vertraglichen Maximalgeschwindigkeiten für Festnetze und geschätzten maximalen Datenübertragungsraten für Mobilfunknetze. Der jüngste Bericht vom 14. Juni 2022 deckt den Zeitraum von Oktober 2020 bis September 2021 (Stationäre und mobile Breitbandanschlüsse) ab.
Mobiler IZ: Daten und Ergebnisse
Für mobile IZ beruht er auf 0,45 Millionen "validen Messungen". Das ist angesichts von über 130 Millionen aktiven persönlichen SIM-Karten in Deutschland (Stand: 30. Juni 2022) keine große Stichprobe, die außerdem aufgrund der Selbstauswahl von vor allem über erhaltene IZ-Leistungen besorgten Nutzern sehr wahrscheinlich nicht für alle Verbraucher repräsentativ ist. Außerdem lässt sich an den im Jahresbericht enthaltenen Statistiken kritisieren, dass sie (1) netzseitig die Auslastung von Funkzellen sowie IP-Backbone-Netzen, die genutzten Frequenzbänder und die Leistungsfähigkeit angewählter Server sowie (2) nutzerseitig die Bewegungsgeschwindigkeit, die genaue Position zur Basisstation, das Ausmaß der Funksignalabschirmung dieser Position und den eingesetzten Endgerätetyp nicht hinreichend differenziert berücksichtigen. Da jedoch Mobilfunknetzbetreiber selbst keine eigenen Messungen allgemein zugänglich machen, gibt es zu den von der BNetzA gesammelten Daten derzeit keine bessere evidenzbasierte Alternative zum Ausmaß der Vertragskonformität von gelieferten MDG bzw. MUG bei mobilen (und stationären) IZ.
Für mobile IZ deuten die Ergebnisse des letzten BNetzA-Berichts auf erhebliche Lieferuntreue hin. Im mobilen Download wurden lediglich bei 20,1 Prozent und im mobilen Upload bei 20,5 Prozent der Messungen Bandbreiten von mindestens 50 Prozent der im Vertrag enthaltenen geschätzten maximalen Bandbreite erreicht. Mindestens 100 Prozent der geschätzten maximalen Bandbreite wurde für mobile Down- bzw. Uploads bei 2,6 Prozent bzw. 3,4 Prozent der Teilnehmer registriert. Die Liefertreue der Telekom war besser als die von Telefónica Germany, die ihrerseits positivere Werte aufwies als Vodafone.
Bei IZ aus Festnetzen war die Liefertreue höher: Bei 83,5 Prozent bzw. 87,5 Prozent der per Desktop-App vorgenommenen 0,17 Millionen Messungen wurden mindestens 50 Prozent der im Vertrag enthaltenen MDG bzw. MUG beobachtet. 100 Prozent oder mehr der MDG bzw. MUG wurden bei 36,5 Prozent bzw. 35,7 Prozent der Messungen registriert. Sowohl für IZ aus Mobilfunk- als auch aus Festnetzen korrelierte das Ausmaß der Abweichung negativ mit der Bevölkerungsdichte, d.h. bei IZ in städtischen Regionen ist sie kleiner als bei IZ in ländlichen Gebieten.
Alles in allem könnten die Befunde dafür sprechen, dass aus Verbrauchersicht ganz besonders bei mobilen IZ die Liefertreue im Hinblick auf die vertraglich benannte geschätzte MDG und MUG nicht befriedigend ist. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wurden in § 57 Abs. 4 TKG für Verbraucher außerordentliche Kündigungs- und Entgeltminderungsrechte bei "erheblichen, kontinuierlichen oder regelmäßig wiederkehrenden Abweichungen" zwischen vertraglichen MDG und MUG einerseits und der tatsächlichen Leistung eines IZ andererseits verankert.
BNetzA-Allgemeinverfügung zu Geschwindigkeitsabweichungen in Festnetzen
§ 57 Abs. 5 TKG überträgt der BNetzA die Kompetenz, die o.a. unbestimmten Begriffe durch Allgemeinverfügung materiell auszufüllen. Für Festnetze hat die Behörde eine entsprechende Verwaltungsvorschrift am 8. Dezember 2021 erlassen und durch eine "Handreichung" ergänzt. Im Hinblick auf die MDG und die MUG in Festnetzen legt sie fest, dass eine Abweichung i.S.v. § 57 Abs. 4 TKG vorliegt, wenn "nicht an mindestens zwei von drei Messtagen jeweils mindestens einmal 90 Prozent der vertraglich vereinbarten maximalen Geschwindigkeit erreicht werden" (S. 1).
Außerdem spezifiziert die Verfügung die Zahl der für einen Abweichungsnachweis erforderlichen Messungen mit wenigstens 30, die an drei Tagen durchzuführen sind, und macht weitere Vorgaben zur zeitlichen Verteilung der Messungen. An der Verfügung mag man den Einbezug der MDG/MUG, den 90-Prozent-Schwellenwert, die Beschränkung auf ein Messverfahren und das Datensammlungsdesign bemängeln. Die BNetzA ist aber insoweit der falsche Adressat für solche Einwände, als dass sie den Erlass einer Allgemeinverfügung nicht umgehen kann, wenn sie nicht gegen europäisches Recht (Art. 4 Abs. 1 lit. d NNVO) verstoßen will.
BNetzA-Vorschlag für Mobilfunknetze
Für Abweichungen bei IZ über Mobilfunknetze hat die BNetzA erst am 25. August 2022 Eckpunkte Nachweisverfahren Mobilfunk zur Konsultation gestellt. Gemäß Eckpunkt 4 plant sie auf den Standort von Mobilfunknutzern bezogene Abweichungsgrenzwerte für die vertraglich vereinbarte MDG/MUG vorzugeben. Dabei sollen drei Standortklassen (städtisch, halbstädtisch, ländlich) unterschieden werden, die anhand der Bevölkerungsdichte definiert werden. Für jede Klasse soll bundesweit der gleiche MDG-/MUG-Grenzwert gelten (= "Einheitswertmodell", S. 7). Eine Abweichung ist anzunehmen, "wenn nicht an drei von fünf Messtagen jeweils mindestens einmal in städtischen Bereichen 25 Prozent, in halbstädtischen Bereichen 15 Prozent oder in ländlichen Bereichen zehn Prozent der vertraglich vereinbarten geschätzten Maximalgeschwindigkeit erreicht würden" (S. 11).
Hintergrund für die geographische Differenzierung ist, dass Mobilfunknetze auf dem Land aus technischen Gründen (u.a. Frequenzlage und Größe einer Funkzelle) mit geringerer Wahrscheinlichkeit die MDG/MUG liefern als in Ballungszentren. Eckpunkt 3 legt fest, dass 30 Messungen verteilt über fünf Tage zu je sechs Messungen vorzunehmen sind und enthält außerdem Vorgaben zu den Zeitabständen zwischen den Datenaufnahmen pro Messtag.
Anders als bei Festnetzen werden die normalerweise zur Verfügung stehende und die minimale Geschwindigkeit nicht thematisiert, da diese Parameter gemäß Art. 4 Abs. 1 lit. d NNVO für IZ über Mobilfunknetze als irrelevant angesehen werden dürfen.
Anpassungsbedarf: Multi- statt Einheitswertmodell
Vor allem die für einen mobilen IZ vorgesehenen drei Prozentwerte haben – analog zu den o.g. Festnetzvorgaben – Debatten über ihre sachliche Angemessenheit ausgelöst. Solche Detaildiskussionen gehen am Kern des Problems vorbei. Er besteht darin, dass das Einheitswertmodell für drei Standortklassen grundsätzlich nicht zur validen Abweichungsbestimmung geeignet ist. Die MDG/MUG bei mobilen IZ ist innerhalb einer Funkzelle und erst recht innerhalb der drei Bereichsklassen nicht gleich. Sie wird von den eingangs angeführten netz- und nutzerseitigen Faktoren stark beeinflusst. Folglich sollte die BNetzA unverzüglich an die Stelle eines Einheitswertmodells ein Multiwertmodell setzen. Multiwertmodell bedeutet, dass die BNetzA pro Funkzelle eines Betreibers Grenzwerte für die MDG/MUG bestimmt, die unter realistischen Nutzungsbedingungen erreicht werden können. Ein solches Vorgehen hat das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation bereits 2016 in seinen Leitlinien zur Umsetzung der NNVO vorgeschlagen.
Die BNetzA begründet ihr Abrücken von einem Multiwertmodell damit, dass "im Mobilfunkmarkt .. derzeit von ... der Konkretisierung der Vertragsinhalte mittels einer Abdeckungskarte ... nicht Gebrauch gemacht" würde (S. 7). Diese These erstaunt, da die zumindest die drei großen Betreiber Telekom, Vodafone und Telefónica Germany in ihren vertraglichen Leistungsbeschreibungen durchaus darüber informieren, dass von ihnen angegebene geschätzte MDG/MUG unter optimalen Bedingungen gelten und standortspezifisch über Netzabdeckungskarten bestimmt werden können. Allerdings stellen Mobilfunkanbieter bislang sehr wohl in ihrer Werbung bundesweit gleiche MDG-/MUG-Angaben in den Vordergrund. Zur Unterstützung des Wechsels zu einem Multiwertmodell für Abweichungsbestimmungen sollten sie davon abrücken. Das hätte für Anbieter außerdem den Vorteil, durch realistische differenzierte MDG-/MUG-Angaben Kundenenttäuschungen zu verringern und so Kündigungen entgegenzuwirken.
Eine Voraussetzung dafür, dass die Behörde zu einem Multiwertmodell wechseln kann, ist, dass sie § 1 Abs. 2 Nr. 5 der TK-Transparenzverordnung anpasst. Dort wird für mobile IZ die Nennung einer geschätzten MDG/MUG in einem Produktinformationsblatt gefordert. Diese Norm wäre klarstellend dahingehend zu ändern, dass Diensteanbieter in einem Produktinformationsblatt für MDG-/MUG-Angaben auch auf ihre im Internet öffentlich zugänglichen Netzkarten oder Funkzellenlisten verweisen dürfen. Eine solche Anpassung läuft den Transparenzauflagen von Art. 4 Abs. 1 lit. d NNVO nicht zuwider, da sie die Bereitstellung von klaren, verständlichen und vor allem aussagekräftigen Informationen ebenfalls gewährleistet.
Geringe Praxisrelevanz der neuen Verbraucherrechte
Für stationäre und mobile IZ gleichermaßen sind mit 30 Messungen, die nach sehr detaillierten Regeln für Festnetze auf drei und Mobilfunknetze sogar auf fünf Tage verteilt werden müssen, der Aufwand zum Nachweis einer Geschwindigkeitsabweichung und in der Konsequenz die Hürde für eine Wahrnehmung der Rechte gemäß § 57 Abs. 4 TKG erheblich. Das spiegelt sich darin wider, dass von Mai 2021 bis April 2022 bei der BNetzA lediglich 1050 Beschwerden über Geschwindigkeitsabweichungen eingereicht wurden (Netzneutralitätsbericht 2021/22, Rn 50), was einer Quote von einer Beschwerde pro 159 Tsd. IZ über Fest- oder Mobilfunknetze entspricht.
Demnach muss davon ausgegangen werden, dass ein durchschnittlicher Verbraucher den hohen Messaufwand nur in Extremfällen auf sich nehmen wird. Folglich geht die praktische Relevanz der Verordnungen zur Abweichungsbestimmung als Basis für die Erhebung von Ansprüchen gemäß § 57 Abs. 4 TKG gegen Null. Hier besteht ein Dilemma. Man könnte zwar die Beweisanforderungen durch Verringerung der Zahl der Messungen und der Vorgaben zu ihrer zeitlichen Gestaltung reduzieren, um für Verbraucher die Schwierigkeit der Wahrnehmung ihrer Rechte abzusenken. Dies wäre aber wiederum problematisch, weil IZ-Anbieter vermehrt mit unberechtigten Verbraucherbeschwerden konfrontiert werden könnten.
Infolge des kaum verminderungsfähigen Beweisaufwands erwecken § 57 Abs. 4 TKG und die zur Ausfüllung der Norm erarbeiteten BNetzA-Verfügungen den Eindruck, dass der europäische und der deutsche Gesetzgeber sie primär deshalb geschaffen haben, damit Politiker die Rechtssetzungen ungeachtet ihrer Praxisferne als Erfolg bei der Stärkung des Verbraucherschutzes vermarkten können.
Fazit
Die "Eckpunkte Nachweisverfahren Mobilfunk" für den Beleg von Geschwindigkeitsabweichungen überzeugen aufgrund der Verwendung eines Einheitswertmodells fachlich eher nicht. Die BNetzA sollte zu einem Multiwertmodell wechseln. Dass die Behörde einen solchen Wechsel vollziehen wird, ist allerdings angesichts dessen, dass sie in der Vergangenheit Konsultationsvorschläge zu Verfügungen im Bereich Telekommunikation fast durchweg materiell kaum geändert hat, unwahrscheinlich.
Tröstlich ist immerhin, dass die Konkretisierung für mobile IZ infolge der geringen Zahl von Verbrauchern, die den hohen Nachweisaufwand für Abweichungen auf sich nehmen werden, kaum Schaden im Mobilfunkmarkt anrichten dürfte. Gleiches gilt für die bereits erlassene Allgemeinverfügung für IZ aus Festnetzen.