Gastbeitrag

SMS-CB: Reaktivierung sinnvoll?

Der vorlie­gende Beitrag von Prof. Torsten J. Gerpott unter­sucht, inwie­fern die Erwei­terung der Warn­medien durch SMS-Cell-Broad­cast eine starke Verbes­serung erwarten lässt.
Von Torsten J. Gerpott

Bei sint­flut­artigen Regen­fällen starben in Rhein­land-Pfalz und Nord­rhein-West­falen am 14. Juli 2021 mehr als 180 Menschen. Viele der Todes­fälle hätten wahr­schein­lich verhin­dert werden können, wenn man die Bevöl­kerung in den Kata­stro­phen­regionen früh­zei­tiger und infor­mativer gewarnt hätte. Eine Lehre aus diesen Gescheh­nissen ist, dass in Deutsch­land öffent­liche Kata­stro­phen-Warn­sys­teme orga­nisa­torisch und tech­nisch deut­lich verbes­sert werden müssen. In orga­nisa­tori­scher Hinsicht bedarf es geschulter fach­licher und poli­tischer Entschei­dungs­träger mit Courage, die sich räum­lich nah zum Ort des Gesche­hens aufhalten. In tech­nischer Hinsicht sind reich­wei­ten­starke elek­tro­nische digi­tale Verteil­netze und leis­tungs­fähige digi­tale Anwen­dungen zur Alar­mie­rung notwendig.

SMS Cell Broad­cast als zusätz­licher Weg, um zu warnen

Wie kann die Bevölkerung optimal alarmiert und informiert werden? Wie kann die Bevölkerung optimal alarmiert und informiert werden?
Foto: Picture Alliance / dpa
Neben bestehenden Warn­wegen (Smart­phone App „Notfall-Infor­mations- und Nach­richten-App“ (NINA) des Bundes für Mobil­funk­netze, Radio, Fern­sehen und Internet) hat die Politik in Deutsch­land jüngst die Verbrei­tung von SMS über Cell Broad­cast (CB) als weitere digi­tale Warn­technik auser­koren. Sie soll regional gezielt Text- und auch auf stumm geschal­teten Mobil­tele­fonen vernehm­bare Tonwar­nungen ohne Rück­griff auf das Internet über die Funk­netze von Telekom, Voda­fone und Telefónica ermög­lichen. Die Entschei­dung zugunsten von CB wurde aber – anders als etwa in den Nieder­landen – in Deutsch­land nicht vor längerem mit Weit­sicht getroffen, sondern reaktiv als Folge der Unwetter im Juli 2021. Bei der letzten großen Novelle des Tele­kom­muni­kati­ons­gesetzes (TKG) vom 23. Juni 2021 war von SMS-CB nicht die Rede. Erst unter dem Eindruck der Regen­kata­strophe setzte man als Artikel 8 des am 14. September 2021 im Bundes­gesetz­blatt verkün­deten Aufbau­hil­fege­setzes mit §164a TKG eine entspre­chende Norm in Kraft.

Auch damit ist die deut­sche Politik eher Getrie­bener als Treiber. §164a TKG geht nämlich auf Art. 110 der Richt­linie (EU) 2018/1972 zurück, gemäß dem die EU-Mitglieds­staaten bis zum 21. Juni 2022 sicher­zustellen haben, dass staat­liche Warnungen über Mobil­funk­netze ohne Inter­net­kon­nek­tivität verbreitet werden können. In Deutsch­land wird der Regel­betrieb von SMS-CB frühes­tens acht Monate nach diesem Stichtag starten.

Eine Ursache für den wenig dyna­mischen Einfüh­rungs­pro­zess sind zersplit­terte Zustän­dig­keiten in der Bundes­regie­rung: Die funk­tio­nalen Spezi­fika­tionen des Systems stammen vom BBK, das zum von der Sozi­alde­mokratin Nancy Faeser gelei­teten Innen­minis­terium gehört; seine tech­nischen Anfor­derungen fixierte die im vom Grünen Robert Habeck geführten Wirt­schafts­minis­terium ange­sie­delte Bundes­netz­agentur in der Tech­nischen Richt­linie DE-Alert am 23. Februar 2022. Das Bundesamt für Bevöl­kerungs­schutz und Kata­stro­phen­hilfe (BBK) stellt bis zum 30. Juni 2022 als Teil des modu­laren Warn­sys­tems des Bundes die Schnitt­stellen bereit, die notwendig sind, damit Mobil­funk­netz­betreiber über SMS Cell Broad­cast Alarm­mel­dungen staat­licher Stellen an die Bevöl­kerung verteilen können.

Nied­rige zusätz­liche Reich­weite teuer erkauft

Die gesetz­gebenden Organe auf Bundes­ebene waren bei SMS-CB nicht ledig­lich spät dran, sondern handelten zudem ohne Mut. Sie hatten nicht die Verve vorzu­geben, dass zumin­dest in Deutsch­land neu oder gar seit einem bestimmten Stichtag in der Vergan­gen­heit verkaufte Mobil­tele­fone SMS-CB unter­stützen müssen. Konse­quenz dieser Schwäche ist, dass zwar die drei Mobil­funk­netz­betreiber auf Basis von §164a Abs. 6 TKG vom Bund für die SMSCB-Imple­men­tie­rung mehr als 50 Millionen Euro und zudem mehr als 10 Millionen Euro pro Jahr für den Betrieb erhalten dürften, für Endge­räte-Hersteller hingegen keine Anreize geschaffen wurden, sich eben­falls zu sputen. Die Politik ist nun auf den guten Willen der großen Produ­zenten von Smart­phones ange­wiesen, da über 95 Prozent der Verbrau­cher in Deutsch­land mit derar­tiger inter­net­fähiger Hard­ware ausge­stattet sind und nicht mehr ein „Uralt­handy“ ohne Inter­net­zugang nutzen.

Die Hersteller agieren eher verhalten. Apple, mit etwa einem Drittel Absatz­markt­anteil in Deutsch­land der wich­tigste Spieler, unter­stützt SMS-CB frühes­tens ab Herbst 2022 mit iOS16, das voraus­sicht­lich auf iPhones ab der achten Gene­ration lauf­fähig sein wird. Auf Endge­räten von Herstel­lern mit dem Google-Betriebs­system Android funk­tio­niert SMS-CB dann, wenn sie mit dem immerhin schon seit September 2020 verfüg­baren Release 11 oder dessen Nach­fol­gern ausge­stattet sind.

Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott
Foto: Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott
Alles in allem ist selbst bei opti­mis­tischer Grund­hal­tung damit zu rechnen, dass hier­zulande auf mitt­lere Sicht keines­falls mehr als die Hälfte der empfangs­bereiten Smart­phones dazu in der Lage sein wird, per CB verschickte Warn-SMS korrekt anzu­zeigen. Hinzu kommt, dass in einer Notlage von den Besit­zern dieser Endge­räte bei weitem nicht jeder­mann gebannt sein Handy beäugt, um keine Meldung zu verpassen. Gerade vulnerable Gruppen wie Ältere oder Personen mit geringen Deutsch­kennt­nissen werden mit SMS-CB eher schlecht abge­deckt.

Die Nutzen-Kosten-Bilanz der „neuen“ Digi­tal­technik über­zeugt somit nicht. Ähnli­ches gilt für die Warn-App NINA. Zwar ist es möglich, sie auf allen neu abge­setzten sowie bei Betriebs­sys­temak­tua­lisie­rungen auf bereits verkauften Smart­phones zu instal­lieren und mit einer Funk­tion auszu­statten, die trotz Stumm­schal­tung eines Endge­räts Alarm­signale ertönen lässt. Aber auch diese Lösung setzt in Notfall­lagen nicht zerstörte öffent­liche Mobil­funk­netze und Nutzer voraus, die ihr Smart­phone betriebs­bereit mit sich tragen.

SMS-CB und die Warn-App NINA sind glei­cher­maßen Beispiele für (zu) späte Reak­tionen der Politik auf ekla­tante Versäum­nisse in der Vergan­gen­heit, mit denen man versucht, sich gegen den Vorwurf abzu­sichern, nicht genug für die Warnung der Menschen in Kata­stro­phen­fällen getan zu haben.

Sire­nen­netze wirk­samer nutzen

Sinn­voller ist es, knappe finan­zielle Mittel des Bundes und der Länder zu verwenden, um den Ausbau elek­tro­nischer akus­tischer Warn­sys­teme (vulgo: Sirenen), die jeder nicht gehör­lose Einwohner vernehmen kann, in Deutsch­land auf der Ebene der Bundes­länder voran­zutreiben. Auch vor vermeint­lich tech­nisch eher simplen Sirenen hat der digi­tale Fort­schritt nicht halt gemacht. Moderne akus­tische Warn­signal­geber für die Öffent­lich­keit arbeiten mit digi­talen elek­tro­nischen Verstär­kern, ermög­lichen auch Durch­sagen und lassen sich unab­hängig von Mobil­funkin­fra­struk­turen über verschie­dene Wege fern­steuern.

Geleitet von der Illu­sion, dass Deutsch­land von Natur­ereig­nissen oder gar krie­geri­schen Ausein­ander­set­zungen auf Ewig­keit verschont bleiben würde, wurde der Bestand an Sirenen über viele Jahre redu­ziert. Die unzu­rei­chende Wert­schät­zung der Warn­funk­tionen von Sirenen spie­gelt sich bis heute darin wider, dass es in Deutsch­land für sie keine amtli­chen Bestands­sta­tis­tiken gibt. Wenigs­tens hat der Bund im Juni 2020 den Ländern als Teil des Corona-Konjunktur- und -Krisen­bewäl­tigungs­pakets zur Sire­nen­för­derung 88 Millionen Euro zuge­sagt.

Dieser Betrag reicht auch im Verbund mit den darüber hinaus vom Bund im Juni 2022 für Sire­nen­inves­titionen ab 2023 in Aussicht gestellten darüber hinaus gehenden Gelder [Link entfernt] jedoch zum einen nicht aus, um Lücken bei der Sire­nen­infra­struktur zu schließen. Zum anderen wird nicht parallel mit über­zeu­gendem Enga­gement an orga­nisa­tori­schen Maßnahmen gear­beitet, die eine stär­kere Zentra­lisie­rung des Sire­nen­auf­baus und -manage­ments in den Bundes­län­dern bewirken.

Neben Sirenen kommen in privaten Räumen vernetzte Rauch­warn­melder als Signal­geber in Betracht, die staat­liche Stellen über ein in Deutsch­land von einem privaten Anbieter unab­hängig von den drei großen Mobil­funk­netz­unter­nehmen immer noch betrie­benes Funk­ruf­netz für akus­tische Warnungen, nicht aber für Durch­sagen heran­ziehen könnten. Diese Lösung hat jedoch einmal den Nach­teil, dass der Roll-out solcher Melder in privaten Wohn- und Gewer­beim­mobi­lien im Vergleich zu öffent­lichen Sirenen deut­lich mehr Zeit erfor­dert.

Bereits instal­lierte herkömm­liche Rauch­melder haben nämlich zumeist eine Lebens­dauer von etwa zehn Jahren, so ihr Austausch nicht rasch zu erwarten ist. Weiterhin erzeugt die Lösung Kosten, deren Auftei­lung zwischen Gebäu­deei­gen­tümern und Mietern strittig sein und damit die Verbrei­tung zusätz­lich abbremsen dürfte. Vernetze Rauch­warn­melder stellen somit höchs­tens auf lange Sicht eine Ergän­zung von Sirenen dar.

Technik allein reicht nicht

Tech­nische und orga­nisa­tori­sche Wieder­bele­bungs­bemü­hungen für Sire­nen­netze oder inno­vative vernetzte Rauch­melder genügen aller­dings nicht, um einen Quan­ten­sprung bei der Kata­stro­phen­war­nung in Deutsch­land zu erzielen. Der setzt voraus, dass die Bürger wissen, was Warn­signale bedeuten und bei Kata­stro­phen­fällen zu tun ist. Entspre­chende Kompe­tenzen sind nicht durch einmal pro Jahr veran­stal­tete bundes­weite „Warn­tage“ (der nächste ist nach dem Ausfall dieses Tages im Jahr 2021 für den 8. September 2022 geplant) zu vermit­teln. Breiter ange­legte wieder­holte profes­sio­nelle Infor­mati­ons­kam­pagnen und Trai­nings für die erwach­sene Bevöl­kerung sind geboten.

Sie mögen zwar wenig populär sein, weil sie bei vielen Menschen Angst­gefühle stärken könnten. Spätes­tens seit dem Beginn des russi­schen Über­falls auf die Ukraine am 24. Februar 2022 sollte aber ins Gedächtnis gerufen worden sein, dass solche Ängste nicht aus der Luft gegriffen sind. Die deut­sche Gesell­schaft muss „resi­lient“ genug werden, um auf Verdrän­gung als Bewäl­tigungs­stra­tegie zu verzichten. SMS-CB kommt hierfür zu spät und ist nicht mehr erfor­der­lich.

Zur Person

Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott leitet den Lehr­stuhl für Unter­neh­mens- und Tech­nolo­gie­pla­nung an der Mercator School of Manage­ment Duis­burg der Univer­sität Duis­burg-Essen.

Auch inter­essant: Am Freitag hat die Bundes­netz­agentur ihre Eckpunkte zur Glas­faser­regu­lie­rung vorge­stellt.

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