Machtkonzentration bei der EU-Kommission vermeiden
Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott
Foto: Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott
Kurz vor dem letzten Weihnachtsfest hielt die Europäische Kommission eine besondere Bescherung für Betreiber digitaler Plattformen bereit. Am 15. Dezember 2020 veröffentlichte sie zwei Gesetzesentwürfe, den „Digital Markets Act“ (DMA) und den „Digital Services Act” (DSA), die nach Verabschiedung durch das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union (EU) in allen Mitgliedsländern der EU baldmöglichst ohne weitere nationale Umsetzungsschritte rechtlich bindend werden sollen.
Regulierte Unternehmen und Pflichten
Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott
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Der DMA unterwirft Anbieter von Vermittlungs-, Such-, sozialen Netzwerk-, Medienteil-,
rufnummernunabhängigen Messaging- und Cloud-Diensten sowie von Betriebssystemen für
vernetzbare elektronische Geräte bestimmten Verhaltensge- und -verboten im Umgang mit
Unternehmen, um den fairen Wettbewerb bei diesen Diensten und Systemen zu stärken. Die
Pflichten sollen überwiegend nur für digitale Torwächter (= „Gatekeeper“) gelten. Damit
sind große Plattformbetreiber gemeint, die (a) einen Jahresumsatz von mehr als 6,5 Mrd. Euro
oder einen Kapitalmarktwert von mindestens 65 Mrd. Euro erzielen und (b) in mindestens
drei EU-Ländern aktiv sind sowie (c) pro Monat mehr als 45 Millionen aktive private Endnutzer
oder im letzten Geschäftsjahr mehr als 10.000 aktive geschäftliche Nutzer aufweisen. Praktisch
zielt der DMA darauf, Selbstbevorzugungen und Zugangsverweigerungen vor allem
von Google, Apple, Facebook und Amazon (= „Gafa“) sowie AirBnB, Booking.com, Ebay,
Microsoft und Uber zu vermeiden, um so die Marktmacht der großen, ganz überwiegend in
den USA beheimateten Digitalkonzerne zu beschränken.
Mit dem DSA adressiert die Kommission Anbieter von digitalen Vermittlungsdiensten im Allgemeinen und von größeren Online-Plattformen zum Teilen nutzergenerierter Inhalte mit mindestens 50 Mitarbeitern und mehr als 10 Millionen Euro Umsatz bzw. Bilanzsumme im letzten Geschäftsjahr. Sehr große Online-Plattformen (= „SGOP“) mit mindestens 45 Millionen aktiven Nutzern pro Monat, bei denen es sich mehrheitlich um dieselben Unternehmen handeln dürfte, die gemäß DMA als Gatekeeper einzustufen sind und deren Zahl in der EU die Kommission mit bis zu 25 schätzt, werden zusätzlich reguliert. Kapitel III des Gesetzes, das sich ausdrücklich eine Modernisierung der im Jahr 2000 in Kraft getretenen E-Commerce-Richtlinie 2000/31/EC auf die Fahne schreibt, macht in 28 Artikeln Vorgaben zur Haftung derartiger Digitalunternehmen für über ihre Plattformen verbreitete Inhalte (Bild, Ton, Text) sowie zu Maßnahmen, die zur Sicherung von Transparenz (z.B. Veröffentlichung von Prinzipien der Inhaltemoderation und algorithmenbasierter Entscheidungen), Vermeidung der Verbreitung illegaler Inhalte (z.B. Hassreden, urheberrechtlich geschützte Inhalte), Identifizierbarkeit von Händlern und Erkennbarkeit von Werbung/Werbern zu treffen sind. SGOP werden zusätzlich mit Pflichten u.a. zur Sicherung von Transparenz bei Empfehlungssystemen und Werbung sowie zur Gewährung von Datenzugang zu Aufsichts- und Forschungszwecken belastet. Durch die Auflagen will der DSA eine durchschaubare und sichere Online-Umgebung für Nutzer größerer und sehr großer Plattformen schaffen.
Zentralisierung von Entscheidungsmacht bei der Kommission
In Publikums- und Fachmedien haben die beiden Kommissionsentwürfe ein erhebliches Echo hervorgerufen. Die Debatte konzentriert sich darauf, inwiefern die Ge- und Verbote ausreichen, um Wettbewerbsvorteile großer Digitalkonzerne zu begrenzen, verdeckte Meinungsmanipulationen zu erschweren und Meinungsvielfalt bei gleichzeitiger Vermeidung von Hassreden und Desinformation zu sichern. Kaum diskutiert wird hingegen, welche Rollen nationale Wettbewerbs-, Netz-, Medien-, Datenschutz- und Verbraucherschutzbehörden der EU-Mitglieder bei der Regulierung von Gatekeepern und SGOP angesichts der Gesetzesinitiativen der Kommission noch übernehmen sollten.
Der DMA sieht vor, dass die Aufsicht über die Einhaltung der Vorgaben für Gatekeeper und die Entwicklung von Abhilfemaßnahmen bei Verstößen allein der Kommission obliegt. Sie erhält zusätzlich die Kompetenz auf Antrag eines Gatekeepers Pflichten auszusetzen, sofern diese dessen ökonomische Überlebensfähigkeit bedrohen oder ein Auflagenverzicht aufgrund vorrangiger Gemeinwohlbelange angezeigt ist. Die vagen Ausnahmekriterien eröffnen der Kommission große Entscheidungsspielräume und verleihen ihr im Verbund mit der Möglichkeit Gatekeepern bei systematischen Pflichtverstößen Abhilfemaßnahmen oder Bußgelder in Höhe von bis zu 10 Prozent des Jahresumsatzes aufzuerlegen, enorme Macht, eigene wettbewerbs-, medien-, datenschutz- und verbraucherpolitische Vorstellungen bei der Regulierung von Digitalkonzernen durchzusetzen. Sie muss dabei nur die Stellungnahme eines Ausschusses, in den jeder Mitgliedsstaat einen Vertreter entsendet, „so weit wie möglich“ berücksichtigen.
Gemäß DSA ist von jedem EU-Mitglied mindestens eine Behörde zu bestimmen, die als Koordinator für digitale Dienste die nationale Durchsetzung des Gesetzes verantwortet soweit es nicht um SGOP geht. Für letztere behält sich die Kommission vor, nach formaler Feststellung des Vorliegens einer Rechtsverletzung durch eine SGOP selbst Entscheidungen über dringliche, zeitlich zu befristende Gegenmaßnahmen und Bußgelder, die sich auf bis zu 6 Prozent des Jahresumsatzes belaufen dürfen, zu treffen. Bei der Vorbereitung solcher Entscheidungen muss sie sich zwar von einem europäischen Ausschuss für digitale Dienste, in den jedes EUMitglied den nationalen Koordinator für digitale Dienste entsendet, beraten lassen. Sie ist aber nicht verpflichtet, sich an Ausschussempfehlungen zu halten und hat nicht einmal zu begründen, wenn sie von solchen Empfehlungen abweicht.
Ein Indiz dafür, dass die Kommission beabsichtigt, die Aufsicht und Regulierung großer Digitalunternehmen nach dem DSA und dem DMA vorbei an den nationalen Behörden der EU-Mitglieder weitgehend im Alleingang zu übernehmen, ist, dass sie hierfür ab 2025 die Einrichtung von insgesamt 87 Vollzeitstellen und externe Ressourcen in einem Umfang, der 43 Vollzeitstellen entspricht, fordert.
Der Machtzuwachs der Kommission durch die beiden Gesetze erleichtert zwar eine konsistente Überwachung und Beeinflussung von Digitalkonzernen. Problematisch ist jedoch, dass infolge der Zentralisierung der Regulierung auf europäischer Ebene nationale politische Vorstellungen, über Jahre akkumulierte Fachkenntnisse nationaler Behörden und nationale Fallbesonderheiten kaum noch hinreichend berücksichtigt werden dürften. Außerdem hat die Kommission in der Vergangenheit nicht gerade überzeugend demonstriert, dass sie dazu fähig ist, schnell bei großen Digitalunternehmen Korrekturen unerwünschter Geschäftspraktiken zu bewirken oder diese gar vorbeugend zu verhindern. Deshalb sollten im weiteren Gesetzgebungsverfahren der DMA und DSA so geändert werden, dass kompetente nationale Behörden der EU-Mitglieder, die bislang mit der Regulierung von Gatekeepern bzw. SGOP betraut sind, stärker in die Beaufsichtigung und Beeinflussung dieser Unternehmen eingebunden werden.
Konkret sind für eine solche Einbindung drei Hebel geeignet. Erstens sollten die EU-Mitglieder über ihre federführende nationale Regulierungsbehörde für große Digitalunternehmen ein Widerspruchsrecht gegen Kommissionsentscheidungen zur Aussetzung von DMA-Verpflichtungen sowie zu Abhilfemaßnahmen und Bußgeldern bei Normverstößen erhalten.
Zweitens sollte den für Gatekeepern bzw. SGOP jeweils national zuständigen Aufsichtsinstitutionen ein Initiativrecht eingeräumt werden, das es ihnen ermöglicht, bei schwerwiegenden Regelverstößen großer Digitalkonzerne zusätzlich zur Kommission länderübergreifend bindende Gegenmaßnahmen und Bußgelder aufzuerlegen. Die Widerspruchs- und Initiativrechte sind so anzulegen, dass nationale Partikularinteressen die Regulierung nicht destruktiv behindern. Dies ist möglich, indem wirksame Widersprüche und Initiativen daran geknüpft werden, dass sie mindestens von der Hälfte der Digitalregulierer in den Staaten, in denen der betroffene Anbieter aktiv ist, unterstützt werden und diese Hälfte auf Länder entfällt, in denen insgesamt mindestens 20 Prozent der EU-Bevölkerung leben. Durch diese Bedingungen wird sichergestellt, dass Interventionen der Kommission nicht durch einzelne bevölkerungsstarke EU-Mitglieder blockiert werden können bzw. auf nationaler Ebene nur ergänzt werden können, wenn sie von Regulierungsbehörden aus mindestens zwei großen Ländern getragen werden. Drittens sollten nationale Regulierer das Recht erhalten, fallbezogene Marktdaten beizusteuern, die von der Kommission bei Interventionen umfassend zu beachten sind.
Kandidaten für die Aufsicht über Digitalkonzerne in Deutschland
Hinsichtlich der umrissenen zusätzlichen Rechte stellt sich auf nationaler Ebene auch für Deutschland die Frage, welche Institution die federführende Rolle bei deren Ausübung übernehmen sollte. Hier sind zwei Strategien zu unterscheiden.
Zum einen kann eine neue Organisation geschaffen werden. Entsprechend hatte die vom Bundeswirtschaftsministerium eingesetzte Kommission „Wettbewerbsrecht 4.0“ bereits 2019 angeregt, ein „Bundesinstitut für Digitalisierung“ zu gründen. Vorteil dieser Option ist, dass die neue Institution breit auf die Felder Wettbewerbs-, Verbraucher-, Daten- und Medienqualitätsschutz ausgerichtet werden kann. Damit würde sie die Komplexität der Regulierung internationaler Digitalkonzerne besser abbilden und wäre als neuer Spieler im Institutionenwettbewerb eher dazu in der Lage eingetretene Pfade zu verlassen als vorhandene thematisch enger spezialisierte Behörden (s.u.). Hingegen spricht gegen die erste Strategie, dass die Etablierung einer neuen Behörde erfahrungsgemäß viel Zeit verbraucht und hohe zusätzliche Kosten verursacht. Ein Musterbeispiel ist die derzeit in Gründung befindliche bundeseigene Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft, die eine lückenlose Mobilfunkversorgung in Deutschland unterstützen soll. Die Gesellschaft wurde zwar bereits Ende 2018 von der CSU gefordert. Obwohl CSU-Mitglieder seit 2009 ununterbrochen das zuständige Verkehrsministerium führen, ist sie aber Anfang 2021 immer noch nicht auch nur halbwegs einsatzbereit und wird vom Bundesrechnungshof als unwirtschaftlich kritisiert [Link entfernt] . Außerdem müsste die neue Institution sich erst über Jahre eine fachliche Reputation erarbeiten, die ausreicht, um von der Kommission ernst genommen zu werden. Im Ergebnis überzeugt die erste Strategie eher nicht.
Zum anderen kann eine vorhandene Organisation als federführende nationale Instanz im Zusammenhang mit der Regulierung großer Digitalkonzerne durch die Kommission genutzt werden. In Betracht kommen hier aus wettbewerbspolitischer Sicht das Bundeskartellamt und die Bundesnetzagentur, aus medienpolitischer Warte die Landesmedienanstalten, aus datenschutzpolitscher Perspektive der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) sowie aus verbraucherpolitischer Sicht der Verbraucherzentrale Bundesverband. Für den Rückgriff auf eine etablierte Institution sprechen Zeit-, Kosten-, Erfahrungs- und Reputationsvorteile, so dass die zweite Strategie der ersten vorzuziehen ist.
Allerdings decken die sechs Kandidaten jeweils nur Teilaspekte der Regulierung großer Digitalkonzerne ab. Zu stark in ihren Kompetenzen begrenzt sind der Datenschutzbeauftragte, das BSI und der Verbraucherzentrale Bundesverband. Die 14 Landesmedienanstalten sind aufgrund ihrer räumlichen beschränkten Zuständigkeit und alleinigen Ausrichtung auf Massenmedien sowie von Konkurrenzbeziehungen untereinander ebenfalls keine Institutionen, denen als nationales Gegengewicht eine ausreichende Einflussnahme auf die Kommission bei der Anwendung von DMA und DSA zugetraut werden darf. Etablierte Behörden mit hoher Reputation und vergleichsweise noch breitem einschlägigen Erfahrungsprofil sind das Bundeskartellamt und die Bundesnetzagentur. Das Bundeskartellamt ist national nach der 10. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen aufgrund des neuen §19a für Verhaltensverbote gegenüber Unternehmen, die wie große Digitalkonzerne eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb haben, zuständig. Im Vergleich zum Bundeskartellamt verfügt die Bundesnetzagentur über in fast 25 Jahren gesammelte praktische Erfahrungen bei der vorbeugenden gleichheitssichernden Wettbewerbssicherung im Telekommunikationssektor unter Einbezug von Aspekten des Kundenschutzes. Von daher spricht einiges dafür die Bundesnetzagentur als nationalen Gegenspieler der Kommission bei der Anwendung von DMA und DSA zu stärken und entsprechende Vorgaben noch in die derzeit erfolgende Überarbeitung des Telekommunikationsgesetzes aufzunehmen. Um nicht gegenüber der Kommission ins Hintertreffen zu geraten, hat die Bundesregierung in jedem Fall rasch eine Wahl zu treffen, ob das Bundeskartellamt oder die Bundesnetzagentur die Gegenspielerrolle federführend übernehmen soll und die präferierte Behörde dann mit hinreichenden Ressourcen auszustatten.
Fazit
Das Paket aus DMA und DSA ist ein längst überfälliges, ambitioniertes Vorhaben der Kommission zur Einhegung der Wettbewerbs- und Meinungsmacht großer Digitalkonzerne. Das Projekt wird aber nicht dadurch erfolgversprechender, dass nationale Regulierungsinstitutionen zugunsten einer Machtkonzentration in Brüssel ausgehebelt werden. Hier sind Korrekturen angebracht. Sie sollten dazu beitragen, dass in Deutschland das Bundeskartellamt oder die Bundesnetzagentur in ihrer Funktion als nationalen Aufseher der Digitalkonzerne gestärkt werden.
Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott leitet den Lehrstuhl für Unternehmens- und Technologieplanung an der Mercator School of Management Duisburg der Universität Duisburg-Essen.