Die Grünen: Medien- und Digitalpolitik-Wahlprogramm 2021
Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott
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Die Machtperspektiven für Bündnis 90/Die Grünen im Bund und in den Ländern sind
derzeit so gut wie nie zuvor. Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg erreichte der
grüne Ministerpräsident Kretschmann jüngst ein Rekordergebnis und kann sich einen Koalitionspartner
aussuchen. Für die Bundestagswahl am 26. September verheißen aktuelle Umfragen
der Partei einen Stimmenanteil von über 20 Prozent. Hingegen befinden sich die Prognosen
für die Union im steilen Sinkflug von fast 40 Prozent im Mai 2020 auf nur noch wenig mehr als
25 Prozent im April 2021. Die Kanzlerpartei leidet darunter, dass ihr beim Kampf gegen Corona
ein schlechtes Management von Lock-Down-Regelungen und Impfungen im Verbund mit
übertriebener Geschäftstüchtigkeit einiger ihrer Bundes- und Landtagsabgeordneten vorgehalten
wird. Die Grünen hingegen, obwohl an vielen Landesregierungen beteiligt, haben es
geschafft, politische Ungereimtheiten im Umgang mit der Pandemie in den letzten Wochen
ohne Schäden an sich vorüberziehen zu lassen. Vielmehr stellte die Partei als Zeichen ihres
Willens und ihrer Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung in der nächsten Bundesregierung
bereits am 19. März ihren Programmentwurf zur Bundestagswahl 2021 vor. Angesichts
der hohen Wahrscheinlichkeit, dass die Grünen in Berlin, in welcher Koalitionskonstellation
auch immer, ab Herbst Regierungsverantwortung tragen werden, ist es höchste
Zeit, die medien- und digitalpolitischen Vorstellungen der Partei in diesem Entwurf auszuleuchten.
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk
Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott
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In ihrem Wahlprogramm plädieren die Grünen dafür, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunksender
"stark und zukunftsfest" (S. 95; Seitenangaben in Klammern beziehen sich im Folgenden auf den Programmentwurf zur Bundestagswahl
2021 von Bündnis 90/Die Grünen vom 19. März 2021) aufgestellt werden, "alle gesellschaftlichen Bereiche"
(S. 95) abdecken und eine "ausreichende Finanzierung" (S. 95) erhalten. Deren gegenwärtig
fragmentierte Mediatheken will die Partei "zu gemeinsamen Plattformen weiterentwickeln"
(S. 95), die mit einer "werbefreie[n], offen[en] und multilingual[en] europäische[n] digitale[n] Plattform in öffentlicher Hand" (S. 114) verzahnt werden sollen. Damit
sich die deutschen Sender aber nicht zu entspannt zurücklehnen und um dem derzeit allgemein
spürbaren Unbehagen an deren schwachen Reformwillen im Hinblick auf Effizienz
sowie Angebotsbreite und -tiefe bei der herkömmlichen linearen sowie der Verbreitung über
das Internet Rechnung zu tragen, möchte die Partei gleichzeitig "eine Debatte darüber führen, wie öffentlich-rechtliche Medien im 21. Jahrhundert aussehen sollen" (S. 95). Dazu,
welche Konsequenzen mit der Debatte angestrebt werden, äußert man sich jedoch nicht.
Ebenso widmet das Programm der Frage kein Wort, wie für private Presseverlage und Rundfunkveranstalter
gegenüber unverändert großzügig alimentierten öffentlich-rechtlichen Sendern
mit ausgeweiteter Netzpräsenz faire Wettbewerbschancen geschaffen werden sollen.
Die Geringschätzung privater Anbieter von Publikumsmedien zeigt sich auch darin, dass die Grünen zwar "bei kulturellen Werken .. für Urheber*innen eine angemessene Vergütung" (S. 109) sicherstellen wollen. Ob zu solchen Werken auch Videoclips der Fußballbundesligen oder kurze Pressetexte gehören sollen, die als Bagatellnutzungen gemäß § 10 des Entwurfs der Bundesregierung vom 9.3.2021 für ein mittlerweile kurz vor dem Inkrafttreten stehendes Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz demnächst bis zu 15 Sekunden bzw. 160 Zeichen durch Jedermann im Internet nicht kommerziell verbreitet werden dürfen, wird nicht erörtert.
Betreiber großer digitaler Plattformen
Globalen digitalen Plattformbetreibern wie Google, Apple, Facebook oder Amazon begegnet das Programm mit großer Skepsis. Die Grünen haben richtig erkannt, dass deren "Dienstleistungen ... und .. Marktmacht [zu] regulieren" (S. 38) sind. Selbst zu Grundzügen einer solchen wettbewerbszuträglichen Regulierung äußert sich die Ökopartei aber nur recht inhaltsarm. Eine Positionierung zu dem im letzten Dezember von der Europäischen Kommission unterbreiteten Vorschlag zu einem "Digital Markets Act", der lange Listen einschlägiger Verhaltensauflagen enthält, sucht man im Programm vergeblich. Einerseits soll in Deutschland das Bundeskartellamt zukünftig bei "Internetgiganten ... Erwerbsvorgänge" (S. 40) prüfen. Andererseits befürworten die Grünen ein eigenständiges europäisches Kartellamt, um eine "europäische Digitalaufsicht [zu] etablieren" (S. 40). Wie eine parallele Kompetenzerweiterung des Bundeskartellamtes und eines europäischen Kartellamtes funktionieren soll, bleibt im Dunkeln. Ebenso wird man im Unklaren darüber belassen, ob Entscheidungen zur geforderten Option der Aufspaltung von großen Digitalkonzernen "unabhängig von einem Missbrauch ..., wenn ihre Marktmacht zu groß wird" (S. 41) vom Bundeskartellamt oder der Kommission gefällt werden sollten.
Niemand wird es überraschen, dass gerade die Grünen "Hasskriminalität im Netz bekämpfen" (S. 96) wollen. Hier vertrauen sie vor allem auf eine "zügige Umsetzung des europäischen Digital Services Act" (S. 96). Genau dieser Verordnungsentwurf der Kommission sieht eine Verlagerung der Kontrolle und Rechtsdurchsetzung im Zusammenhang mit der Verbreitung illegaler Inhalte über große digitale Plattformen auf eine neue zentrale europäische Behörde vor. Das blendet das Programm schlicht aus, wenn es für Deutschland im gleichen Absatz zusätzlich zu den bereits vorhandenen Landesmedienanstalten ohne jegliche Nutzen- Kosten-Erwägungen auch noch eine "gemeinsame Medienanstalt der Länder" (S. 96) fordert. Hier hatte man wohl nicht die Courage, den hintergründig mitschwingenden Zweifel an der Wirtschaftlichkeit der heutigen Organisation mit 14 Anstalten, klar auszudrücken.
Bei der Menge der über große digitale Plattformen verbreiteten Inhalte ist es offensichtlich, dass deren Betreiber "Straftaten wie Hassrede, Cybergrooming oder sexualisierter Gewalt" (S. 54) nicht von Hand, sondern nur unter Einsatz intelligenter Algorithmen weitgehend maschinell automatisiert im Netz entgegentreten können. Trotzdem lehnen die Grünen "eine Verpflichtung zum Einsatz von Uploadfiltern" (S. 96) ab. Diese Sicht ist populär. Sie klärt aber nicht, wie die Partei Persönlichkeits- und Urheberrechtsschutz, vor allem ohne weitgehende Verlagerung der Rechtsdurchsetzung auf private Unternehmen, einerseits sowie Rede- und Informationsfreiheit andererseits in Einklang bringen will.
Telekommunikationsanschlussnetze
Noch mehr enttäuscht das Programm, das ausdrücklich beansprucht, "die Digitalisierung voran[zubringen]" (S. 39), wenn es um die Telekommunikationsnetze geht, über die Medieninhalte und andere Daten für Bürger, Wirtschaft und öffentliche Hand transportiert werden. Komplexe Themen wie die Sicherung des Ausbaus von Anschlussnetzen auf dem dünn besiedelten Land über marktliche Lösungen oder staatliche Subventionen und deren Finanzierung adressieren die Grünen erst gar nicht. Polemisch zugespitzt kann man feststellen, dass das Programm getreu dem Motto "Wozu Netze? Bei uns kommen elektronische Medien und Daten aus der Wohnungswand" abgefasst wurde. Bezeichnend ist, dass dem Ausbau von Telekommunikationsnetzen keine Zeile spendiert wird, wohl aber "Smart-City-Projekte[n zum] Aufbau unabhängiger digitaler Plattformen, mit denen der örtliche Einzelhandel attraktivere Angebote machen kann" (S. 73). Da vielfach belegte Größen- und Verbundvorteile auf digitalen Märkten sich kaum per Beschluss der Grünen außer Kraft setzen lassen werden, ist eine solche Programmatik bestenfalls naiv und schlimmstenfalls anmaßend. Sie lässt die Verschwendung von Steuergeldern für unerfüllbare Dezentralisierungs- und Kooperationsträume #chten.
Fazit
Die Grünen haben ihren Programmentwurf zur Bundestagswahl 2021 mit "Deutschland. Alles ist drin." überschrieben. Dieser Slogan trifft in der Tat auf die medien- und digitalpolitischen Aussagen zu. Sie sind oft in sich widersprüchlich und durchweg vage. So maximiert die Partei die Chance mit dem Zeitgeist zu segeln und keine Wählergruppe zu verschrecken. Machtpolitisch ist das verständlich. Für Wähler ist es jedoch ein Ärgernis, weil das Programm nicht klar macht, worauf man sich mit einem Votum für die Grünen medien- und digitalpolitisch einlässt.
Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott leitet den Lehrstuhl für Unternehmens- und Technologieplanung an der Mercator School of Management Duisburg der Universität Duisburg-Essen.
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