Unklar

Cell-Broadcast-Warnungen für fast niemand?

Als Folge der Ahrtal-NRW-Flut­kata­strophe sollen Cell-Broad­cast-Warnungen auch in Deutsch­land einge­führt werden. Die Technik ist da, aber niemand weiß, wie und welche Handys es empfangen können.
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Wenn Sie aktuell den Wetter­bericht hören oder aus dem Fenster schauen: Es kann regnen, drückend heiß sein, heftige Gewitter geben, bis hin zu Stürmen oder Tornados, die böse Schäden anrichten können oder das schon getan haben.

Wie kann die Bevöl­kerung groß­flä­chig davor gewarnt werden? Spätes­tens seit der Kata­strophe im Ahrtal und in Teilen von Nord­rhein-West­falen ist das Thema wieder aktuell.

SMS-CB seit ca. 1992

Katastrophenalarm auf dem Handy? Derzeit eher eine Katastrophe. Katastrophenalarm auf dem Handy? Derzeit eher eine Katastrophe.
Fotos: Images licensed by Ingram Image, Montage: teltarif.de
Schon im GSM-Netz­stan­dard aus den 1990er Jahren war eine Funk­tion enthalten, die SMS-CB (Short Message Service Cell Broad­cast) genannt wird. Die Idee war damals die gleiche wie heute: Es sollte möglich sein, für alle Kunden im Empfangs­bereich einer Basis­sta­tion gezielt Nach­richten ("Broad­cast") zu verschi­cken.

Beispiels­weise lokales Wetter, lokale Verkehrs­infos, lokale Einkaufs-Ange­bote oder schlicht der Name der Basis­sta­tion, in die man sich gerade einge­bucht hat. Weil nicht alle Infor­mationen jeden inter­essieren, wurden "Kanäle" erfunden, denen man seiner­zeit drei­stel­lige Nummern verpasst hatte. Als Stan­dard­kanal sollten alle Geräte auf 050 oder 100 lauschen, weitere Kanäle wären dann bei Inter­esse zuschaltbar gewesen.

Halb­her­zige Umset­zung

Verschie­dene Netz­betreiber mochten sich mit der Möglich­keit nie richtig anfreunden. Die Schweizer Swisscom strahlte den Namen der aktu­ellen Basis­sta­tion (meist den Orts­namen) aus, bei Mannes­mann/Voda­fone wurde zeit­weise die interne (codierte) Sender­stand­ort­ken­nung ausge­strahlt. VIAG Interkom/o2 nutzte den Kanal 221, um die Koor­dinaten der Basis­sta­tion für die Ermitt­lung der Home­zone ("Genion", "Das Häus­chen") anzu­zeigen.

Rechnet sich das?

Die Kosten­rechner schauten argwöh­nisch: Wie könnte man diesen Dienst mone­tari­sieren, sprich zu Geld machen? Würde der örtliche Bäcker darüber seine Bröt­chen bewerben und für die Werbung auch zahlen? Würden die Nutzer viel­leicht auch dafür zahlen, um Staus oder andere Verkehrs­mel­dungen zu erhalten? Das Inter­esse blieb gering. Dann kam das mobile Internet und machte das SMS-Angebot und seine Möglich­keiten völlig unin­ter­essant.

Lange in Verges­sen­heit

Die Sache geriet in Deutsch­land Verges­sen­heit, bis zur Ahrtal-Kata­strophe. Schnell ein Gesetz geän­dert und eine tech­nische Vorschrift erlassen und gebaut und geschraubt: Bis zum bundes­weiten Warntag am 8. September sollte das neue System vorge­stellt werden.

Keine Ahnung, ob und wie es funk­tio­niert

Nur wie es genau funk­tio­niert, wissen nach wie vor nur sehr wenige Einge­weihte. Auf der Aktio­närs­haupt­ver­samm­lung der Telekom wurde so eine Alar­mie­rung gezeigt. teltarif.de fragte nach: Das sei nur im Versuchs­sta­dium und daher nur mit einem bestimmtem Handy-Modell (unter Android) möglich. Mit älteren Geräten könnte es wohl nicht mehr funk­tio­nieren.

Seit 10 Jahren: NL-Alert

Wenige Kilo­meter weiter west­lich in den Nieder­landen gibt es das "System NL-Alert", das seit etwa 10 Jahren exis­tiert und wirksam funk­tio­niert. NL-Alert basiert auf genau diesem Mobil­funk­dienst SMS-CB. NL-Alert soll mehr als 90 Prozent der Menschen über zwölf Jahre errei­chen, ein Wert, von dem Deutsch­land meilen­weit entfernt ist.

Was hier­zulande weniger bekannt ist: Bei der Ahrtal-NRW-Kata­strophe wurden auch Teile der Nieder­lande und Belgiens entlang der Maas in Mitlei­den­schaft gezogen. In den Nieder­landen wurden die Menschen recht­zeitig alar­miert und zur Räumung der gefähr­deten Gebiete aufge­for­dert“, berich­tete Leon Eummelen, Spre­cher der Warn­zen­trale in der nieder­län­dischen Sicher­heits­region Süd-Limburg in einem Gespräch mit der Zeit­schrift Wirt­schafts­woche (WiWo). „Die Evaku­ierung ist sehr gut gelaufen.“ Der Erfolg: Auch in den Nieder­landen gab es massive Schäden, aber keine Todes­opfer.

Wie die WiWo berichtet, nutzen Länder wie Nieder­lande, Litauen, Israel, Kanada oder die USA die Möglich­keiten von SMS-CB zur Warnung vor kleinen oder großen Kata­stro­phen. In Deutsch­land sei diese Option von den Behörden hingegen trotz verschie­dener Appelle lange igno­riert worden.

„Wir haben Bundes­wirt­schafts- und -innen­minis­terium zigmal gedrängt, auch Cell-Broad­cast in den Warnmix aufzu­nehmen“, so Peer Rechen­bach, bis 2013 Vorsit­zender des Arbeits­kreises Kata­stro­phen­schutz bei der Innen­minis­ter­kon­ferenz der Länder zu WiWo. „Jedes Mal wurde der Vorstoß abge­lehnt – unter anderem wegen der Kosten für die Netz­betreiber“.

Es gibt ja Warn-Apps

Sicher, es gibt Warn-Apps wie KatWarn, Nina oder DWD-Warn­wetter. Doch mancher Nutzer hat die Alarm­signale bereits wieder abge­schaltet, weil da oft Dinge durch­kamen, die regional gar keine Bedeu­tung hatten und manches schwere Gewitter war dann am Ende "nur" ein Platz­regen.

Neues Gesetz - neue Technik - wie funk­tio­niert es?

Nach der Flut­kata­strophe wurde das Gesetz geän­dert, eine umfang­reiche Tech­nik­vor­schrift "DE-Alert" in Kraft gesetzt: Warnungen sollen auch in Deutsch­land über Cell Broad­cast ausge­strahlt werden. Daneben soll es weiter (oder wieder) Sirenen, Warn-Apps und Radio­durch­sagen geben.

Als nächster Termin stand der 8. September im Raum; beim natio­nalen Warntag sollte vorge­führt werden, was möglich ist. Anschlie­ßend hätte der bundes­weite Test- und ab Februar 2023 der soge­nannte "Regel­betrieb" laufen sollen.

Warntag besser verschieben?

Doch inzwi­schen wird wohl über­legt, diesen Warntag zu verschieben. In der Branche geht die Angst vor einer Neuauf­lage der Pleite vom Warntag 2020 um: Da blieben viele Sirenen entweder stumm oder waren kaum zu hören. Verschie­dene Warn-Apps meldeten sich erst mit deut­licher Verspä­tung oder auch gar nicht. Die Folge: Der Chef des Bundes­amtes für Bevöl­kerungs und Kata­stro­phen­hilfe (BBK) musste seinen Hut nehmen. Sein Nach­folger war auch nur kurz da und wech­selt jetzt in das Innen­minis­terium in Sachsen.

Wer kann die Meldungen empfangen?

Aktuell ist unklar, wer diese SMS-CB/Cell-Broad­cast-Warn­mel­dungen über­haupt korrekt empfangen und auswerten kann. Uralte Handys haben zwar mögli­cher­weise die Funk­tion SMS-CB noch akti­viert, empfangen aber nur bestimmte Kanäle (050 oder 100) oder sie müssen vom Kunden einmalig akti­viert werden. Nur wie? "Mittel­alte" Geräte haben diese Funk­tion mögli­cher­weise gar nicht mehr imple­men­tiert oder sie ist in den Menüs sehr gut versteckt.

Bis zur Einfüh­rung der DE-Alert-Richt­linie war völlig unklar, welche Kanal­num­mern verwendet werden sollen. Prak­tischer­weise sind diese Nummern inzwi­schen vier­stellig geworden. Ob Nummern (sofern sie unter 1000 sind) auch von älteren Geräten "verstanden" werden, ist unklar.

Verschie­dene Meldungs-Arten

Mit diesen Message-IDs (den "Kanälen") sollen unter­schied­liche Alarm­typen möglich werden. Das bedeutet: Zeigt ein Handy die Warnung nur als Text an, blinkt das Display, gibt es einen Vibra­tions­alarm oder einen Signalton, auch wenn der Kunde sein Handy "stumm" geschaltet hat?

Derzeit nur mit Android 11 und 12 - ältere nicht?

Die WiWo hat erfahren, dass nur Googles aktu­elle Betriebs­sys­tem­ver­sionen Android 11 und 12 mit den notwen­digen Funk­tionen für DE-Alert ausge­stattet sind.

Wer liefert noch Updates für ältere Geräte?

In früheren Android-Versionen müsste jeder Handy­her­steller die Cell-Broad­cast-Funk­tion für jedes Gerä­temo­dell einzeln anpassen. Wo sich viele Hersteller heute schon gene­rell schwer tun, für ältere Geräte über­haupt noch irgend­welche Updates zu liefern, kann man davon ausgehen, dass es ziem­lich sicher auch kein Alarm-Update gibt.

Nehmen wir den popu­lären Hersteller Samsung. Das Galaxy-S9-Serie ist seit vier Jahren auf dem Markt. Ob es Cell Broad­cast passend empfangen können wird, ist mehr als unklar.

Apple: Erst ab iOS 16

Ein Riesen­pro­blem stellen die Geräte des Smart­phone-Konzerns Apple dar. Die Einstel­lungs­optionen für Cell Broad­cast sollen zwar in den Geräten noch vorhanden sein, seien aber für den Nutzer ausge­blendet, behauptet der Artikel-Autor und Rettungs­profi Thomas Kuhn (er ist seit Jahren bei der frei­wil­ligen Feuer­wehr aktiv) in der Wirt­schafts­woche. Ein Update sei nach Bran­chen­gerüchten nicht geplant. Erst ab iOS 16, was ab Herbst ausge­rollt werden soll, sollen die Cell-Broad­cast-Warn­funk­tionen wieder zugäng­lich sein. Nun wird nach allem, was bekannt ist, iOS 16 auf vielen älteren Modellen (z.B. iPhone SE (erste Gene­ration) oder iPhone 6s (Plus) und früher) nicht mehr laufen.

Die Mobil­funker sollen zwar bei Apple sofort ange­fragt haben, in Cuper­tino habe man aber den Wunsch nicht sofort erfüllen wollen.

Keine Vorschriften für Handy­her­steller?

Und es kommt noch besser: Im Gesetz ist nur fest­gelegt, dass die Netz­betreiber die Funk­tion Cell-Broad­cast bereit­stellen und die Warn­signale aussenden müssen. Für die Handy­her­steller gibt es keine Pflicht, ihre Geräte damit aus- oder nach­zurüsten. Die WiWo kommt zu dem Schluss: "Dass es für ein funk­tio­nie­rendes Warn­system auch die Produ­zenten braucht, scheint beim Schreiben der Richt­linie oder des neuen Tele­kom­muni­kati­ons­gesetzes niemand bedacht zu haben."

Wer ist zuständig?

WiWo listet ein weiteres Problem auf: Es gibt bei dem Aufbau des Alarm­dienstes keine Feder­füh­rung: Tech­nische Details hat die Bundes­netz­agentur fest­gelegt, sie ist dem Bundes­wirt­schafts­minis­terium (Robert Habeck, Grüne) zuge­ordnet. Funk­tionen wie Warn­typen und -texte sowie die Warn­server der Netz­betreiber, die mit bestehenden Alarm­sys­temen in den Leit­stellen gekop­pelt werden, werden vom Bundesamt für Bevöl­kerungs­schutz und Kata­stro­phen­hilfe (BBK) defi­niert und das unter­steht dem Bundes­innen­minis­terium (Nancy Faeser, SPD).

In der Branche wird vermutet, dass man sich nicht auf eine Führungs­rolle verstän­digen konnte. Kata­stro­phen­schützer Rechen­bach macht beide Minis­terien als Verhin­derer einer früh­zei­tigeren Lösung aus: „Die Leute haben völlig verlernt, was Selbst­schutz bedeutet.“ Seine Kritik ist harsch: "Von den Menschen, die bei der Flut­kata­strophe eine Warnung in der App bekommen oder eine Sirene gehört hätten, habe ein Groß­teil gar nicht gewusst, was zu tun ist."

Eine Einschät­zung (von Henning Gajek)

Wenn es um Kata­stro­phen geht, ist vieles eine Kata­strophe. Lange haben wir in einer Voll­kasko-Welt gelebt, wo alles irgendwie reibungslos läuft, Probleme, Störungen, Ausfälle hat es nicht zu geben, basta. Kata­stro­phen gibt es, aber doch nicht bei uns. Es wird nun viel neue Technik aufge­baut, aber kein Mensch weiß so richtig, was im Kata­stro­phen­fall zu tun ist. Die Menschen kaufen sich Mini-Funk­geräte (für PMR446 und CB-Funk) schalten sie viel­leicht mal kurz ein, erwarten aber auch hier eine komplett funk­tio­nie­rende Infra­struktur. Wenn man sich nicht mit der Technik beschäf­tigt und in "Frie­dens­zeiten" auspro­biert, wie sie sinn­voll genutzt werden kann, nutzt sie im Ernst­fall auch nichts. Die Wehr­pflicht wurde ausge­setzt, viel­leicht sollte man sie durch eine soziale Dienst­pflicht ersetzen. Damit jede Bürgerin, jede Bürger wenigs­tens einmal im Leben etwas gemeinsam für eine gute Sache tut. Rettungs­dienste, Pfle­gedienste, Kata­stro­phen­schutz, Tech­nisches Hilfs­werk etc. freuen sich über jede und jeden, der/die aktiv mithilft. Damit kleine Kata­stro­phen nicht zur großen Kata­strophe werden.

Und: Wir werden am Ball bleiben und berichten, welche Geräte wie zu konfi­gurieren sind, sobald uns dazu belast­bare Infor­mationen vorliegen.

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