Editorial: Prime Music kaputt - Amazon als Kulturbanause?
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Bild: Amazon, Screenshot: teltarif.de
Ja, ich weiß, dass wir in schwierigen Zeiten leben. Ja, ich weiß, dass das Leben momentan überall teurer wird. Ja, ich weiß, dass insbesondere Energie in vielen Bereichen der Wirtschaft fast unbezahlbar geworden ist. Ja, ich weiß, dass eine Serverfarm, auf der ein Streaming-Dienst gehostet ist, momentan unfassbar viel Stromkosten produziert.
Und doch musste ich als langjähriger zufriedener und begeisterter Prime-Kunde über Amazon in dieser Woche den Kopf schütteln, wie ich das zuvor noch nie musste. Was hat Amazon dabei geritten, gleichzeitig mit der Aufstockung des Bestands von 2 Millionen auf 100 Millionen Songs den Dienst Prime Music derart zu beschränken und damit zu zerstören? Ist Amazon jetzt unter die Kulturbanausen gegangen?
Statt Zufallswiedergabe: Die Reihenfolge machts
In meinem ausführlichen Test zum neuen Prime Music habe ich dargestellt, was das Problem ist: Gespeicherte Alben und Playlists spielen bei Prime Music praktisch keine Rolle mehr. Amazon spielt dem Nutzer vor, was es möchte, nicht was er möchte. Selbst wenn Musik aus dem gerade gewählten Album ertönt, geschieht das in einer zufälligen Reihenfolge der Songs. Oft erklingt auch ganz andere Musik, die gar nicht aus diesem Album ist - und auch nichts mit dem dortigen Musikstil zu tun hat.
Im Test habe ich ausgeführt, dass das insbesondere bei klassischer Musik völlig inakzeptabel ist, weil eine Symphonie, ein Kammermusikwerk, eine Oper oder ein Musical eben nun mal in dieser Reihenfolge komponiert worden sind. Und das trifft übrigens auch auf viele Alben der Rock- und Popmusik nach 1960 zu. "Tommy" von "The Who", die Konzeptalben-Klassiker "Wish You Were Here", "The Dark Side of the Moon" und "The Wall" von Pink Floyd sowie mehrere Alben von "The Alan Parsons Project" und viele andere: Sollen wir denn all diese Musik jetzt in einer zufälligen Reihenfolge anhören?
Selbst im Bereich der Filmmusik-Soundtracks gibt es zahlreiche Alben, worauf die Musik nicht nur als eine Summe von Einzeltiteln angeordnet ist, sondern wohlkomponiert von jemandem, der sich darüber Gedanken gemacht hat.
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Bild: Amazon, Screenshot: teltarif.de
Amazon als Kulturbanause?
Amazon bietet uns nun also 100 Millionen Songs als Teil des Prime-Abos - das ist prinzipiell lobenswert. Aber warum zerstört Amazon dabei auf einen Schlag kulturelle Werte aus Jahrhunderten? Lassen sich kulturelle Werte auf einzelne Songs, Symphoniesätze, Musical-Tänze und Opernarien reduzieren? Kann Amazon das einfach alles willkürlich auseinanderreißen, nach seinem Gusto (also nach seinem geheimen Algorithmus) wieder zusammenfügen und dem Nutzer vorschreiben: "Das und nichts anderes sollst du hören"?
Über die Macht und die Gefahr der Algorithmen wird in den vergangenen Jahren zu Recht mehr und mehr diskutiert. Ganz klar: Von einem Algorithmus zur Zufallswiedergabe bei Prime Music hängt jetzt nicht unsere politische Willensbildung ab, wie das bei der durch Algorithmen gesteuerten Anzeige von Postings und Werbung in sozialen Netzwerken der Fall ist. Amazon hat sich bei Prime Music wohl eher unfreiwillig selbst verraten und spielt dem Nutzer aus den 100 Millionen möglicherweise überwiegend die Songs vor, für die Amazon möglichst wenig Lizenzgebühren bezahlen muss, was die 100 Millionen wieder nur zu einer Illusion degradieren würde.
Mit der Einführung der Zufallswiedergabe kann ich aber nicht anders, als Amazon echtes Banausentum vorzuwerfen. Ein Kulturbanause ist laut dem Duden eine Person, die kein Kunstverständnis hat. Und genau das ist das neue Prime Music mit der Zufallswiedergabe: Eine Hintergrundmusik-Dudelmaschine ohne jegliches Kunst- und Kulturverständnis, das möglicherweise nur dazu dienen soll, die Kunden zum Abschluss des monatlich extra kostenden Amazon Music Unlimited zu animieren.
Das sollte Amazon sich mal bei Prime Video erlauben: Wer die Freunde zu einem Filmabend eingeladen hat, um "The Dark Knight" anzuschauen, muss stattdessen "Desperate Housewives" gucken, und zwar irgendeine Serienfolge aus irgendeiner Staffel. Wer "Die Verurteilten" anschauen wollte, muss stattdessen "Bridget Jones - Schokolade zum Frühstück" angucken. Amazon könnte den Prime-Kündigungen gar nicht so schnell zuschauen, wie sie eintreffen würden.
Was wären die Alternativen gewesen?
Doch halt: Sind wir mit dieser Einschätzung nicht zu streng? Amazon hat ja in der Tat massiv gestiegene Kosten für seine Streaming-Dienste. Darum können wir auch für Preiserhöhungen im Streaming-Bereich durchaus Verständnis aufbringen. Aber Amazon hat ja kurz vor der Prime-Music-Zerstörung die Preise bereits erhöht: Von 69 Euro auf 89,90 Euro pro Jahr.
Momentan sind übrigens werbefinanzierte Streamingdienste wieder vermehrt im Kommen, wobei es diese (wie zum Beispiel Netzkino oder YouTube Music) schon seit längerer Zeit gegeben hat. Ich hätte es gerne akzeptiert, wenn mir vor den 100 Millionen oder meinetwegen auch nur 2 Millionen Songs Werbung vorgespielt worden wäre - trotz Jahresgebühr für Prime.
Da wir gerade schon YouTube Music genannt haben: Das wäre aus meiner Sicht ein Modell gewesen, an dem sich Amazon hätte orientieren können. Ein großer Musikkatalog mit über 80 Millionen Songs, kostenlos und werbefinanziert nutzbar mit voller Suchfunktion und Kontrolle durch den Nutzer. Ja, die Werbung zwischen den Songs stört bei einer Oper und die Hintergrundwiedergabe fehlt. Aber dafür hat der Nutzer die volle Kontrolle über das, was er hören möchte. Und wenn er sich an den Einschränkungen stört, kann er ja YouTube Premium buchen, was sogar noch den Vorteil werbefreier YouTube-Videos mit sich bringt.
Fazit
Die aktuellen Entwicklungen treiben seltsame Blüten, wobei ich - wie gesagt - Preiserhöhungen und werbefinanzierte Dienste für keine seltsame Blüte und auch nicht für eine Kulturzerstörung halte. Bei Firmen wie Amazon sitzen eben auch BWLer, die rechnen müssen, wie sich die Ausgaben mit den Einnahmen verrechnen lassen.
Kein Ausweg kann es allerdings in meiner Hinsicht sein, dem Nutzer jegliche Kontrolle über seinen Kunstgenuss wegzunehmen. Mit Kulturbanausentum wird Amazon insbesondere in Europa keinen Blumentopf gewinnen - sondern muss eher um seine kulturelle Belanglosigkeit fürchten, selbst wenn in anderen Bereichen wie Online-Shopping das Geschäft weiterhin floriert. Denn für Hintergrundgedudel kann ich jeden beliebigen (Internet-)Radiosender anmachen, dazu brauche ich kein Prime-Abo.
Bei Nonoki gibt es legal, kostenlos und werbefrei 80 Millionen Songs bei freier Auswahl. Wie kann das funktionieren - und ist das eine Alternative zu Prime Music?