Neues Prime Music im Test: Der zerstörte Musikdienst
Popup-Hinweis auf das neue Angebot
Bild: Amazon, Screenshot: teltarif.de
Kunden von Amazon Prime haben in den vergangenen Jahren eine zweifache Entwicklung erlebt: Die ursprüngliche Versand-Flatrate des Online-Shops wurde sukzessive um weitere Bestandteile erweitert: Es kamen Prime Music, Prime Video, kostenlose eBooks und Spiele sowie weitere Vorteile hinzu.
Gleichzeitig wurde das Prime-Abonnement aber auch immer teurer. Die letzte Preiserhöhung erfolgte in diesem Jahr - und zwar von bislang 69 Euro auf jetzt 89,90 Euro. Bei monatlicher Zahlung sind 8,99 Euro statt bislang 7,99 Euro monatlich zu entrichten.
In dieser Woche nahm Amazon an Prime Music nun eine weitere Änderung vor: Statt zwei Millionen sind nun 100 Millionen Songs inklusive - und damit der komplette Musikkatalog. Doch bei der Nutzbarkeit des Dienstes gab es eine eklatante Verschlechterung.
Popup-Hinweis auf das neue Angebot
Bild: Amazon, Screenshot: teltarif.de
Ganz neu gestaltete Startseite
Nach der Umstellung von Prime Music am 1. November nahmen wir sofort einen ersten Test vor. Die Apps für Android und Windows, die wir für den Test verwendeten, waren noch nie ein Musterbeispiel an Übersichtlichkeit gewesen. Doch nach dem Update hat man den Eindruck, dass der Nutzer fast gar nichts mehr selbst machen darf, sondern nur noch die von Amazon präsentierte Musik hören soll.
Konkret ausgedrückt: Unsere über mehrere Jahre aufgebaute Musikbibliothek ist zwar noch vorhanden, aber die ausgesuchten Songs und Alben werden nicht mehr direkt auf der Startseite angezeigt. Dort gibt es nur noch Empfehlungen von Amazon wie "angesagte Playlists", "angesagte Radiosender", "Auswahl der Redaktion" oder Songs und Alben "für dich", die der Amazon-Algorithmus ausgewählt hat.
Die neue Startseite - Empfehlungen von Amazon
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Zu den ganz oben angezeigten Bereichen "angesagte Playlists" und "angesagte Radiosender" müssen wir allerdings konstatieren, dass diese komplett gar nichts mit unseren Interessen oder unserem Musikgeschmack zu tun haben. Obwohl wir noch niemals über Prime Music Sommerhits, Schlager, Club-Hits, Lounge-Music, House oder Hip-Hop gehört hatten, wurde uns fast ausschließlich derartige Musik vorgeschlagen. Erst in den "für dich"-Bereichen zeigte Amazon dann Vorschläge an, die immerhin zum Teil unserem Geschmack entsprachen.
Selbst gewählte Musik kaum noch abspielbar
Beim Klick auf den Menüpunkt "Bibliothek" war unsere über Jahre angelegte Sammlung von rund 800 Alben allerdings noch da. Und siehe da: Die bisherige Einschränkung, dass immer wieder Alben ausgegraut waren, weil Amazon sie aus dem bislang beschränkten Katalog von zwei Millionen Songs genommen hatte, war verschwunden: Jetzt werden alle Alben als verfügbar angezeigt. Doch dann folgte die böse Überraschung.
Mit der Umstellung von Prime Music wies Amazon darauf hin, dass die Prime-Kunden ab jetzt nicht mehr frei aus dem Gesamtkatalog auswählen können, sondern sich die Songs nur noch im Zufallsmodus anhören können. Allerdings können die Nutzer Lieder unbegrenzt überspringen und sich bis zu 15 Playlists anlegen.
Zum Test tippten wir eines der seit längerer Zeit gespeicherten Alben an. Beim Tippen auf den Play-Button startete aber nicht der erste Titel des Albums, sondern ein ganz anderer, den Amazon wahllos ausgewählt hatte. Wir gingen zurück auf die Bibliothek und probierten es mit einem zweiten Album. Als wir dieses öffneten und den ersten Titel antippten, spielte Amazon plötzlich einen ganz anderen Titel ab. Dieser gehörte auch gar nicht zu diesem Album, sondern zu einem ganz anderen Album, das sich gar nicht in unserer Musikbibliothek befindet.
Zufallswiedergabe einer klassischen Symphonie
Bild: Amazon, Screenshot: teltarif.de
System für zahlreiche Musik-Gattungen ungeeignet
Das neue System ist allerdings für zahlreiche Musikgattungen und damit auch für viele Nutzer völlig ungeeignet. Wer ohnehin eher zusammenhanglos Musik hört, für den stellt das neue Amazon Prime Music keine Verschlechterung dar.
Doch insbesondere Fans von klassischer Musik, Opern, Musicals und Konzeptalben aus dem Rock- und Pop-Bereich werden Prime Music damit nicht mehr sinnvoll nutzen können. Eine Symphonie, Oper oder ein Musical wurden exakt in dieser Reihenfolge komponiert, eine Zufallswiedergabe ergibt hier überhaupt keinen Sinn.
Ein Test-Beispiel: Wir riefen unser Album zur 4. Symphonie von Anton Bruckner mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter Christian Thielemann auf und klickten auf den ersten Satz. Daraufhin spielte Amazon allerdings den dritten Satz ab. Wir klicken auf die Schaltfläche "nächster Titel", doch das erlaubte uns Amazon nicht, sondern zeigte an, dass dies nur mit einem kostenpflichtigen Upgrade auf Amazon Music Unlimited möglich wäre.
Wir stoppten also die Wiedergabe und tippten erneut den ersten Satz an. Und jetzt spielte Amazon gar nichts mehr aus diesem Album ab, sondern plötzlich den zweiten Satz aus einer Symphonie aus dem Umfeld von König Friedrich II., gespielt vom Carl Philipp Emanuel Bach Chamber Orchestra - was mit dem symphonischen Werk von Anton Bruckner so gut wie gar nichts gemeinsam hat. Der tatsächliche Komponist des Werks war aus den spärlichen Angaben von Amazon nicht zu ermitteln. Beim nächsten Klick auf den ersten Satz der Bruckner-Sinfonie ertönte dann ein Song der amerikanischen Sängerin Nicki Richards - damit hatten wir den Bereich der Klassik dann endgültig verlassen.
Nach mehreren Versuchen unten zu sehen: Amazon spielt eine ganz andere Symphonie aus einer ganz anderen Zeit.
Bild: Amazon, Screenshot: teltarif.de
Fazit
Wer sich in den vergangenen Jahren vielleicht mühevoll eine eigene Musikbibliothek für Prime Music angelegt hat, kann diese praktisch in den Wind schreiben. Amazon spielt in dem Musikdienst fast nur noch ab, was es selbst möchte und nicht, was der Nutzer hören möchte.
Das Anlegen von Playlists bringt nach unserem Test übrigens gar nichts: Wie von Amazon empfohlen legten wir eine neue Playlist an und fügten die vier Sätze der Bruckner-Sinfonie hinzu. Doch auch die Playlist spielte Amazon in einer ganz anderen Reihenfolge ab - und teils ertönten wieder ganz andere Titel. Das Anlegen von Playlists bei einer Opernaufnahme mit teils bis zu 50 Titeln wäre auch ein recht umfangreiches Unterfangen.
Wer sich also nicht auf die von Amazon vorgeschlagene Musik einlassen möchte, für den ist Prime Music - trotz des umfangreich vergrößerten Angebots - ab jetzt unbrauchbar. Möglicherweise will Amazon mit dem Schritt seine bislang treuen (und für Prime bereits bezahlenden) Kunden zum kostenpflichtigen Abschluss von Amazon Music Unlimited drängen.
Die Änderungen bei Prime Music kommentieren wir auch in unserem Editorial: Prime Music kaputt - Amazon als Kulturbanause?
Bei Nonoki gibt es legal, kostenlos und werbefrei 80 Millionen Songs bei freier Auswahl. Wie kann das funktionieren - und ist das eine Alternative zu Prime Music?