EU-Gesetzesentwurf: Kontrolle privater Chat-Nachrichten
Kinderpornografie ist schlimm, und die europäische Politik möchte dagegen wirksam vorgehen. Die EU stellt sich vor, die gesamte private digitale Kommunikation der Menschen automatisiert zu durchleuchten und im Verdachtsfall automatisch Strafanzeige erstatten zu lassen, also vereinfacht gesagt eine vollautomatische "Chatkontrolle".
Aktuell wird eine EU-Übergangsverordnung diskutiert, die Anbietern von E-Mail-, Chat- und Messenger-Diensten zunächst erlaubt, in alle privaten Chats reinzuschauen.
Ab Sommer 2021 würde ein zweiter geplanter Gesetzentwurf der EU-Kommission dann alle Anbieter dazu verpflichten, das generell zu tun. Das berichtet der Europa-Abgeordnete Patrick Breyer, der für die Deutsche und die Europäische Piratenpartei im europäischen Parlament tätig ist.
Rechtsgutachten: Entwurf verstößt gegen EU-Rechtsprechung
Zur generellen Jagd nach Kinderpornographie sollen in der EU alle elektronische Nachrichten durchleuchtet werden dürfen
Fotos: Gerichtshof der Europäischen Union/Tomasz Trojanowski - fotolia.com, Montage: teltarif.de
Jetzt hat die ehemalige Richterin des Europäischen Gerichtshofes, Prof. Dr. Ninon Colneric, das Verfahren der Chatkontrolle einer umfangreichen Analyse unterzogen. Sie kommt in ihrem Rechtsgutachten zu dem Ergebnis, dass die EU-Gesetzesvorhaben zur Chatkontrolle nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stehen und die Grundrechte aller EU-Bürger auf Achtung der Privatsphäre, auf Datenschutz und auf freie Meinungsäußerung verletzen.
Auftraggeber des Rechtsgutachtens war der Europaabgeordnete und Bürgerrechtler Breyer. Er forderte mit weiteren Abgeordneten die EU-Kommissare Vestager, Jourová, Breton, Reynders und Johansson auf, ihre Bemühungen zum Schutz vor sexuellem Missbrauch auf die Unterstützung und Koordinierung gezielter Ermittlungen und Prävention sowie die Hilfe für Opfer zu konzentrieren.
Sie sollten weiter davon absehen, ein System der allgemeinen und wahllosen Überwachung von Online-Aktivitäten zu schaffen oder zu dulden, das am Ende private Unternehmen und ihre fehleranfälligen Programme und Algorithmen mit der "Durchsuchung nach angeblich kriminellen Aktivitäten" betrauen würde.
"Haarsträubende Pläne"
Breyer findet die Pläne "haarsträubend." Das sei eine totale Durchleuchtung von privater Kommunikation "mit fehleranfälligen Denunziationsmaschinen", und führe in eine Sackgasse. Denn vor Gericht hätten diese Beweise keine Chance.
Breyer wirft den Initiatoren "eine wahllose Suche ins Blaue" vor, was ein "falscher Weg zum Schutz von Kindern" wäre. Im Gegenteil: Die Kinder würden sogar gefährdet, wenn private Fotos aus Familien auf einmal von den Anbietern herausgefischt und weitergleitet werden. Dabei könnten die Bilder leicht in falsche Hände geraten.
Breyer schlägt stattdessen verstärkte verdeckte Ermittlungen in Kinderporno-Ringen und ein Abbau der jahrelangen Bearbeitungsrückstände bei Durchsuchungen und Auswertungen bereits beschlagnahmter Datenträger durch die Polizei vor.
Ende der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung?
Die EU-Kommission möchte alle Anbieter gesetzlich dazu verpflichten, Online-Dienste generell auf mögliches Material zur sexuellen Ausbeutung von Kindern zu durchleuchten und solche Nutzer an die Strafverfolgungsbehörden zu melden. Das würde das verpflichtende Scannen aller verschlüsselter Kommunikation bedeuten. Mit der sicheren Ende-zu-Ende-Verschlüsselung wäre es dann vorbei.
EU-Parlamentsmehrheit derzeit wohl dafür
Aktuell hat gestern im vierten Trilog zwischen Kommission, Rat und Parlament die Parlamentsmehrheit (außer Grüne/EFA und Linke) der flächendeckenden Durchleuchtung zugestimmt. Nun geht es noch um die ursprünglich geforderten Auflagen (z.B. maximale Fehlerquote von Algorithmen, Ausnahme für Berufsgeheimnisse wie Journalisten, Anwälte etc.), die schrittweise auch abgebaut werden sollen.
Tausende Falschmeldungen wahrscheinlich
Gegen das Verfahren der flächendeckenden Chatkontrolle haben sich unter anderem der deutsche Bundesdatenschutzbeauftragte, die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltverein ausgesprochen.
Auch ein Missbrauchsopfer kritisiert das Vorhaben, weil es Opfern alle Kanäle zur vertraulichen Beratung, Therapie und Hilfe nehmen würde. Die automatischen Programme der Anbieter würden ja gar nicht verstehen, ob ein Journalist, ein Anwalt oder eine psychologische Beratungsstelle am Chat beteiligt ist und blinden Alarm schlagen.
Die wirklich "bösen Menschen", die sich für solche Inhalte interessieren oder daran verdienen wollen, würden wohl verstärkt auf neue noch besser verschlüsselte Dienste in Ländern außerhalb der EU-Rechtsprechung ausweichen.
Durchleuchten US-Dienste schon jetzt die User-Nachrichten?
Im vergangenen Jahr wurde übrigens bekannt, dass amerikanische Angebote wie GMail, Facebook Messenger, Outlook.com und Xbox bereits seit Jahren private Nachrichten durchleuchten und Tausende von Strafanzeigen versenden. Davon wurden allerdings 86 Prozent unschuldige Nutzer fälschlich der Kinderpornografie bezichtigt, wie die Schweizer Tageszeitung Zürcher Tagesanzeiger berichtet.