Editorial: Noch mehr Kongressabsagen
Bereits vor einem Monat hatte ich den Mobile World Congress in Barcelona wegen der in China begonnen Covid-Epidemie in Frage gestellt. Tatsächlich sagten in den kommenden Wochen dann immer mehr Aussteller ab, darunter auch zahlreiche große Namen wie Ericsson, Nokia, Sony, LG, Deutsche Telekom oder Vodafone. Die GSMA zog dann zu Recht die Reißleine und sagte den Kongress ganz ab.
Inzwischen sind auch zahlreiche weitere große Messen abgesagt worden, allen voran die ITB, die in Berlin ab Mittwoch hätte stattfinden sollen. Frankreich hat generell alle Veranstaltungen mit mehr als 5000 Teilnehmern vorübergehend abgesagt, die Schweiz sogar alle Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern.
Eindämmung - teilweise
Eine der abgesagten Messen ist die ITB in Berlin
Bild: dpa
Anfang Februar hatte ich bezüglich der weiteren Verbreitung von
SARS-CoV-2 - so heißt das neue Coronavirus 2019-nCoV nun offiziell -
spekuliert und über "fast 100 000 bekannte Fälle"
bis Ende Februar geschrieben. Nun, tatsächlich wurden bis gestern weltweit
über 86 000 Infektionen gemeldet. Doch hinter der hohen Zahl
versteckt sich auch eine positive Nachricht: Es ist zumindest in China
gelungen, die Neuinfektionsrate drastisch zu senken. Denn schon Mitte
Februar war die Zahl der Infizierten in China auf 66 000 hochgeschnellt.
Sie hat sich bis Ende des Monats dann "nur" noch um weitere
13 000 Fälle erhöht, entsprechend einer Zunahme von unter
20 Prozent. In derselben Zeit sind aber auch 30 000 Menschen
genesen. Es wurden also deutlich mehr Menschen geheilt als neu infiziert.
Die Krankheit befindet sich in China - zumindest den offiziellen Zahlen
zufolge - bereits wieder auf dem Rückzug.
Anders hingegen die Situation außerhalb Chinas: Die Zahl der weltweit - außer China - mit SARS-CoV-2 Infizierten wächst seit Anbeginn exponentiell. Dauerte es Anfangs Februar zudem noch sechs bis sieben Tage, bis sich die Zahl der bekannten Fälle verdoppelte, hat sich das Tempo zuletzt drastisch erhöht: Die letzte Verdoppelung dauerte keine drei Tage, von 26. Februar (3300 Fälle) bis 29. Februar (6800 Fälle).
Besonders kritisch ist die Lage im Iran, wo nicht nur fünf Mitglieder des Parlaments, inklusive des stellvertretenden Gesundheitsministers, positiv getestet wurden, sondern auch bis Ende Februar bereits 43 Personen verstorben sind. Offiziell waren bis dahin nur knapp 600 Infektionen bestätigt, doch das Land bereitet sich auf zehntausende Tests vor. Diese dürften auch nötig sein, um alle Fälle zu erfassen: Eine seriöse Studie zur Infektionslage im Iran, die die hohe Zahl der aus dem Iran in anderen Ländern ankommenden Infizierten hochrechnet, errechnete daraus um die 18 000 Infektionen.
Beschleunigter Anstieg außerhalb Chinas
Für den beschleunigten exponentiellen Anstieg der Covid-Fälle außerhalb Chinas gibt es zwei Interpretationsmöglichkeiten. Die pessimistische Variante ist, dass das Virus schlicht und einfach außer Kontrolle geraten ist und sich immer schneller verbreitet, während die Gesundheitsbehörden mit mehr (zum Beispiel Iran) oder weniger (zum Beispiel Deutschland) Abstand zwar versuchen, die Infizierten zu finden und zu isolieren, es aber doch nicht rechtzeitig schaffen.
Die optimistische Interpretation ist hingegen, dass die Gesundheitsbehörden und die Allgemeinbevölkerung nun endlich aufgewacht sind und Covid nicht mehr als "chinesisches Problem" sehen, sondern als Infektion, die alle treffen kann. Dadurch werden bisher unentdeckte Infektionsfälle nun doch noch aufgeklärt und nachgemeldet. Durch geeignete Maßnahmen, wie die häusliche Quarantäne auch schon bei möglichen Ansteckungen und die Absage von Großveranstaltungen, wird die Ansteckungsrate nun auch außerhalb Chinas reduziert.
Viele Experten hoffen bezüglich Covid zudem auf den Sommer: Erfahrungsgemäß sind Viren bei höheren Temperaturen weniger stabil und das reduziert natürlich das Ansteckungsrisiko. Genauso, wie sich Grippewellen meist im Frühjahr totlaufen, könnte das auch die Covid-Welle tun. Nur: Weder in Wuhan, wo die Seuche ihren Ausbruch nahm, noch an Bord des Kreuzfahrtschiffes "Corona Princess", wo sich binnen kurzem über 700 Menschen infizierten, noch in den neuen Ausbruchsherden in Norditalien, Iran und Südkorea, war es in den vergangenen Wochen besonders kalt. Andererseits: Das subtropische Thailand, das Lieblings-Urlaubsland der Chinesen, hat zwar viele Covid-Einzelfälle bei chinesischen Touristen gemeldet, aber keinen größeren Ausbruch im eigenen Land. Im tropischen Singapur, wo viele Chinesen leben und arbeiten, werden zwar auch Ansteckungen im eigenen Land beobachtet, bisher aber kein großer Cluster wie in Italien, Iran oder Südkorea.
Es besteht also die begründete Hoffnung, dass sich die Ausbreitung von Covid-19 im Sommer - aber zumindest in unseren Breitengraden nicht schon im Frühling - verlangsamen wird. Nur: Auf der Südhalbkugel ist dann Winter, insbesondere in Australien, Argentinien, Brasilien und Südafrika. Diese Länder wären dann besonders gefährdet. Zudem dauert der Sommer nicht ewig: Gelingt es während der heißen Zeit nicht, Covid-19 zumindest auf der Nordhalbkugel weitgehend auszurotten, dann droht die große Covid-Welle im Herbst und Winter 2020/2021.
Was hat Covid mit dem Smartphone zu tun?
Schlimmer als die Grippe
Es gibt immer noch viele, die halten Covid-19 einfach nur für "die nächste Grippe". Aber vieles spricht dagegen: Bisher 6 Tote unter den 2600 Kreuzfahrtgästen der "Diamond Princess", zudem weiterhin 35 Infizierte mit ernster oder kritischer Lage, von denen wahrscheinlich noch einige sterben werden: Niemand würde eine Kreuzfahrt buchen, wenn das Risiko, davon nicht zurückzukehren, 2 in 1000 beträgt (aktuell) oder gar 5 in 1000 (falls noch 20 Prozent der kritischen Fälle sterben). Dabei sind Grippewellen an Bord von Kreuzfahrtschiffen sicher normal, aber daraus resultierende Todesfälle gibt es nur vereinzelt. Für die aktuelle Grippesaison werden in Deutschland 80 000 positive Tests, 13 300 Behandlungen im Krankenhaus, aber nur 130 Tote gemeldet. Covid kommt bei ähnlich vielen Infektionen aber auf über 2900 Tote - zwanzig mal gefährlicher. Und die Dunkelziffer, also die Zahl der Infizierten und Kranken, die gar nicht zum Arzt gehen, ist bei der bekannten Grippe sicher noch vielfach höher als bei einer neuen Krankheit wie Covid.
Covid wie die Grippe also ohne besondere Seuchenschutzmaßnahmen "einfach laufen zu lassen" hätte ziemlich fatale Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung, zumal niemand die Langzeitfolgen des Virus kennt. Wenn man dennoch beide Infektionskrankheiten vergleichen will, dann stellt sich zudem die Frage, ob man nicht künftig das bei der Bekämpfung von Covid erhaltene Wissen auch auf die Grippe anwenden sollte: Die Vermeidung der jährlichen Grippewelle würde nämlich auch viel Leid und einige Todesfälle ersparen.
Telemedizin
Die Lösung für die Zukunft: Telemedizin
Bild: picture alliance/Sebastian Gollnow/dpa
Das Smartphone könnte übrigens bei der Eindämmung von Covid, Grippe
und anderen gefährlichen Erkältungskrankheiten eine wichtige Rolle
spielen. Derzeit ist es ja so, dass sich Erkältungskranke - oft mit
dem Nahverkehr - zum Arzt schleppen müssen, um dort ihre
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erhalten. Aus seuchenmedizinischer
Sicht ist das extrem kontraproduktiv, können doch auf dem Weg von und
zum Arzt und beim Warten beim Arzt andere angesteckt werden.
Die hygienische Situation würde sich schlagartig verbessern, wenn man eine Video-Hotline zur Abklärung der üblichen Erkältungskrankheiten einführt. Dabei lassen sich auch Fotos des Rachens prüfen und für das Abhören von Lunge und Herz könnte statt des Stethoskops auch ein "Sensorhemd" mit zahlreichen Mikrofonen verwendet werden, das man direkt auf der Haut trägt und wie ein Headset an das Smartphone anstecken kann. Als Massenware produziert sollte es weniger als zehn Euro pro Exemplar kosten. Findet der Arzt an der Video-Hotline beispielsweise am Morgen bei einem Patienten seine Lunge für überprüfenswert, verschreibt er ihm Paracetamol zur Fiebersenkung und das Sensorhemd. Der Lieferdienst der Apotheke bringt beides mittags, am frühen Nachmittag findet die Abklärung statt. Bisher ruft der Patient hingegen am Morgen beim Hausarzt an, bekommt mitgeteilt, dass das Wartezimmer bereits voll ist, er aber um 14 Uhr kommen an, wenn er "Zeit mitbringt". Der Patient wird dann durch Fahrt zum Arzt und stundenlanges Sitzen im Wartezimmer (statt Schlafen im Bett) zusätzlich belastet und das Abhorchen der Lunge erfolgt dennoch erst um 16:30 Uhr, nachdem die Patienten mit regulärem Termin alle dran gewesen sind.
Telemedizin kann - richtig organisiert - also schneller sein als der klassische Arztbesuch. Sie kann auch und gerade bei Infektionswellen die Hausärzte von Routineaufgaben entlasten, sodass letztere sich auf die schwierigen Fälle konzentrieren können. Sie kann aber noch mehr: Das genannte "Sensorhemd" bietet zudem die Möglichkeit, den Patienten auch ohne Anwesenheit eines Arztes per Software dauerhaft zu überwachen. Hustet der Patient - wie bei Grippe üblich - nachts nicht nur stark, sondern gerät er in Atemnot, dann könnte umgehend der Notarzt alarmiert werden. Der muss dann zwar eine Tür aufbrechen, aber im Gegenzug zur Rettung eines Lebens ist das ein geringer Schaden.
Covid-19 ist derzeit eine Belastung. Aber in der Vergangenheit ist die Menschheit bisher aus jeder Belastung erstarkt hervorgegangen. Ich bin mir sicher, dass es auch dieses Mal so sein wird.