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Editorial: Schadensersatz absurd

Ein Händler will 70 000 Euro von einem Kunden, weil dieser ein paar negative Sätze über ihn gesagt und seine E-Mails an den Plattformbetreiber weitergeleitet hat. Ist das alles rechtens?
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Justizia 70 000 Euro für ein paar Sätze in einem Kommentar und ein oder zwei E-Mail-Weiterleitungen?
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70 000 Euro Schadensersatz soll nach den Vorstellungen eines Amazon-Marketplace-Händlers dessen Kunde zahlen - weil er einen negativen Kommentar abgab, und diesen auch dann nicht entfernte, als ihm der Händler per E-Mail mit einer Anzeige drohte. Vielmehr informierte der Kunde Amazon über die Drohungen des Händlers. Amazon schloss daraufhin den Händler vom Marketplace aus. Entsprechend sanken dessen Umsätze, die er sich nun gerichtlich vom seiner Meinung nach hierfür verantwortlichen Käufer zurückholen will. Die weiteren Details finden Sie in unserer zugehörigen Meldung.

Nun stehen in so einem Verfahren die Chancen des Händlers, erfolgreich einen so hohen Schadensersatz geltend zu machen, extrem schlecht. Es war ja nicht der Kunde, der das Verkäuferkonto schloss, sondern Amazon. Der Händler müsste also beweisen, dass die Kommunikation des verklagten Kunden (und nicht die Kommunikation anderer Kunden oder auch ein Testkauf von Amazon selber) ursächlich für die Amazon-Sperre war, dass diese Kommunikation rechtswidrig war, und dass der Händler auch keine andere Möglichkeit hatte, vergleichbare Umsätze zu erzielen, zum Beispiel durch das Ausweichen auf andere online-Plattformen, allen voran ebay. Und selbst, wenn das alles zutrifft, müsste der Kunde natürlich höchstens den entgangenen Gewinn erstatten, nicht den kompletten Umsatz. Schließlich spart sich der Händler, der nicht mehr handelt, die Kosten für seinen eigenen Wareneinkauf und den Versand.

Aus nachvollziehbaren Gründen verbieten die Marketplace-AGB von Amazon den Händlern, Einfluss auf die Bewertungen ihrer Kunden zu nehmen. Damit sich nicht rumspricht, dass das nur eine "leere Drohung" ist, kann Amazon gar nicht anders, als bei Verstößen gegen diese Regelung die betroffenen Händler abzumahnen und/oder gleich zu kündigen. Das versetzt die Kunden in eine ziemliche Machtposition: Sie müssen nicht mehr tun, als Amazon ein paar Berichte über ungebührliches Verhalten eines Händlers zukommen zu lassen, und schon wird ebendieser Händler gekickt. Stellt sich dann später heraus, dass diese Anschuldigungen erstunken und erlogen waren, könnte das in der Tat teuer für die Verleumder werden.

Im konkreten Fall gehen die Presseberichte jedoch davon aus, dass der Kunde die E-Mail des Händlers unverändert an Amazon weitergeleitet hat. Dazu hat er auch das Recht, insbesondere dann, wenn der Händler sich unkorrekt verhalten hat! Wer recht hat, wird hoffentlich der Prozess klären, die erste Verhandlung ist für Juni angesetzt.

Besser nichts sagen?

Justizia 70 000 Euro für ein paar Sätze in einem Kommentar und ein oder zwei E-Mail-Weiterleitungen?
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Dennoch stellt sich die Frage, ob solche Klagen wütender Händler die Verbraucher von berechtigten Negativbewertungen abhalten können. Der Augsburger Allgemeinen sagte der betroffene Kunde: "Das Ganze bereitet mir schon schlaflose Nächte". Schadensersatz oder Schmerzensgeld dafür, monatelang (oder im Falle von Berufung und Revision möglicherweise sogar jahrelang) mit der Angst leben zu müssen, demnächst finanziell ruiniert zu sein, gibt es in der Regel nicht. Da überlegt man sich unter Umständen doch, ob Negativsätze in einem Produktkommentar oder die Weiterleitung einer harschen E-Mail eines Händlers an den Plattformbetreiber sein müssen.

Angesichts dessen bleibt auf ein möglichst klares Urteil zugunsten des Kunden und eine umfangreiche Berichterstattung darüber zu hoffen - und dass danach dem Händler das Geld für weitere Klagerunden ausgeht. Schon aktuell leiden die Bewertungsfunktionen bei Amazon & Co. an Fake-Bewertungen: Händler oder Hotels geben sich Bestnoten, während sie zugleich die Konkurrenz in Grund und Boden schreiben. Wenn wegen der Klagegefahr zudem die echten Bewertungen durch normale Verbraucher weniger werden, dann wird es noch schwieriger, die ernstgemeinten Bewertungen zwischen dem Fake-Spam herauszupicken. Das wäre schade.

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