Editorial: Nur mit Druck
Wenn Flugreisen wieder unbeschwert möglich werden, gibt es viel Nachholbedarf. Staus und Verspätungen sind vorprogrammiert.
Foto: Picture Alliance / dpa
Auch, wenn derzeit nur vergleichsweise wenige Flüge stattfinden:
Wenn kommendes Frühjahr hoffentlich die ersten Covid-Impfprogramme
Erfolg zeigen und die Infektionszahlen wegen der Impfungen und der
steigenden Temperaturen generell zurückgehen, dann wird es zum Sommer
hin am Himmel wieder voll werden. Denn die Menschen haben einen gewaltigen
Nachholbedarf an unterlassenen Geschäftsreisen,
Verwandten-/Bekanntenbesuchen und Urlaubsfahrten. Dann wird es auch
wieder verstärkt zu Flugverspätungen kommen, und damit eine zwar gut
gemeinte, aber bisher nicht gut umgesetzte EU-Richtlinie wichtig
werden: die EU-Fluggastrechte.
Die Beträge, die Airlines bei Verspätung oder kurzfristigen Flugstreichungen bezahlen müssen, sind durchaus beträchtlich: Schon für einen verspäteten Kurzstreckenflug gibt es 250 Euro, bei einem Langstreckenflug nach Asien oder Amerika gar 600 Euro. Da ist der Ärger über einen verlorenen Urlaubstag schnell verflogen, wenn man als Entschädigung dafür sogar mehr Geld bekommt, als der Flug überhaupt gekostet hat. Schließlich ist man ja trotzdem sicher am Zielort angekommen, nur eben einige Stunden später als erwartet.
Allerdings gibt es einen Haken: Die Erstattung bei Verspätung steht den Fluggästen nur dann zu, wenn die Verspätung auf zu eng gestrickte Flugpläne, mangelhafte Wartung oder organisatorisches Chaos bei der Airline zurückgeht. Beruht die Verspätung hingegen auf "außergewöhnlichen Umständen", gibt es kein Geld. Und solche "außergewöhnlichen Umstände" gibt es viele: Der eigene Flug muss wegen eines medizinischen Notfalls vorzeitig landen, ein Sturm wirbelt den Flugplan durcheinander, ein Bummelstreik der Fluglotsen verzögert den Umlauf, ein Flugzeug einer anderen Airline muss notlanden und blockiert anschließend die Startbahn oder das Kabinenpersonal der eigenen Fluggesellschaft streikt. In all diesen Fällen müssen die Fluggäste die Verspätung doch hinnehmen.
Verweigerung mit vorgeschobenen Gründen
Wenn Flugreisen wieder unbeschwert möglich werden, gibt es viel Nachholbedarf. Staus und Verspätungen sind vorprogrammiert.
Foto: Picture Alliance / dpa
Das Problem ist: Wenn ein Luftfahrtunternehmen mit Hinweis auf
eines der genannten Ereignisse die Zahlung der Erstattung verweigert,
dann kann der Passagier im Einzelfall meist nicht prüfen, ob diese
Verweigerung zu Recht erfolgt. Zwar findet man zu den meisten
verspätungsauslösenden Großereignissen Meldungen in den Medien.
Doch war es unvermeidbar, dass der eigene abendliche Flug nach Korsika
mit drei Stunden Verspätung abhebt, weil in Paris Charles De Gaulle
die Sicherheitskontrollen aufgrund einer Terrorwarnung verschärft
wurden und dort die Abfertigung zusammenbrach?
Auf der einen Seite gehören Korsika und Paris beide zu Frankreich und durch den Umlauf der Flugzeuge können Verzögerungen in der Stadt auch Flüge auf die Insel beeinflussen. Auf der anderen Seite müssen Airlines eine gewisse Reserve an Flugzeugen und Crews bereithalten. Wenn dann eine oder zwei Maschinen in Paris festsitzen, lässt sich das bei ausreichender Bereitschaft entsprechend kompensieren, das andere Flüge trotzdem (fast) pünktlich stattfinden. Doch wie soll der durchschnittliche Fluggast erkennen können, ob ein bestätigtes "außergewöhnliches Ereignis" zwangsläufig auch seinen Flug negativ beeinflusst hat? Und selbst, wenn der Fluggast das richtig erkennt: Ist der Fluggast auch redegewandt genug, um nicht doch den professionellen Abwimmlern in den Rechtsabteilungen der Airlines zu unterliegen?
Die Alternative ist der Rechtsweg. Wegen einigen hundert Euro vor Gericht zu gehen, erzeugt aber schnell höhere Kosten als der Wert, über den man sich überhaupt streitet. Unterliegt man, muss man die Kosten selber bezahlen, es sei denn, man hat eine gute Rechtsschutzversicherung, die den Fall auch übernimmt. Und selbst dann muss man noch einen guten Anwalt finden, der den professionellen Rechtsabteilungen der Konzerne zumindest ebenbürtig ist. Das ist schwierig, denn die guten Anwälte interessieren sich in der Regel für die großen Streitigkeiten, wo ihre Gebühren vielfach höher ausfallen.
Am Ende landen viele Fluggäste mit ihrer Forderung nach Entschädigung daher bei den Fluggastrechte-Portalen. Diese bieten meist an, den Streit ohne Kostenrisiko für den Kunden durchzuführen. Im Gegenzug verlangen sie aber eine Provision für die eigene Arbeit. Zahlt die Airline nach der Einschaltung des Fluggastrechte-Portals, bekommt der Gast also nur einen Teil der ihm zustehenden Erstattung. Zahlt die Airline auch nach einem Gerichtsverfahren nichts, hat der Fluggast aber immerhin keinen Verlust.
Mehr Durchsicht dank Masse
Der große Vorteil der Fluggastrechte-Portale ist, dass sie die Verfahren bündeln können. Wenn durch einen Flug 200 Passagiere Verspätung hatten und 30 davon über ein bestimmtes Portal eine Entschädigung einfordern, dann kann das Portal eine dieser 30 Forderungen als Musterprozess führen und die anderen 29 Fälle analog behandeln: Verliert das Portal den Musterprozess, wird es auch die anderen 29 Forderungen nicht einklagen. Gewinnt es, wird es der Airline eine Frist zur Anerkennung der anderen 29 Fälle setzen und die analogen Fälle mit den dann hohen Erfolgsaussichten durchklagen, wenn die Airline nicht bis Fristende zahlt.
Zudem sehen die Portale, wie sich die Verspätungen auf die Airlines verteilen: Wenn an einem Tag alle Airlines Verspätungen bei Flügen von Palma de Mallorca hatten, dann gab es wohl dort ein allgemeines Problem, das man kaum einer bestimmten Airline anlasten kann. Wenn es an einem anderen Tag insgesamt 15 Flüge mit einer erstattungswürdigen Verspätung gab, davon 14 Flüge bei einer bestimmten Airline, dann ist der Fehler wohl dort zu suchen. Wenn die Airline dann nicht einen Streik nachweisen kann, wird sie wohl zahlen müssen. Alles dieses Wissen hilft den Fluggastrechte-Portalen im argumentativen Kampf mit den Airlines.
Helfer nötig
All dieses Wissen hat aber der einzelne Fluggast als Einzelkämpfer aber nicht, auch dann nicht, wenn er einen Anwalt beauftragt. Daher kommen immer weniger an der Hilfe der Fluggastrechte-Portale vorbei. Entsprechend verdienen die Portale (außer aktuell zu Covid-Zeiten) ihre Provision immer sicherer. Hier sehe ich das Problem der EU-Fluggastrechte: Dem Kunden auf der einen Seite eine hohe Entschädigungszahlung zuzusprechen, auf der anderen Seite aber gegen große und starke Konzerne auf den allgemeinen Rechtsweg zu verweisen, ist nicht sonderlich verbraucherschützend. Es führt zu Frust, sowohl bei denen, die über die Fluggastrechte-Portale gehen, aber so nur einen Teil des Geldes erhalten, als auch bei denen, die klagen, aber vor Gericht verlieren, und dann auf hohen Prozesskosten sitzen bleiben.