Editorial: Elefantenprozess über Elefantenhochzeiten
Beim dritten Börsengang der Telekom wurden 200 Millionen Aktien verkauft
Bild: picture alliance/dpa | Oliver Berg
Jahrzehnte ist es her, dass die
Deutsche Telekom vom Bund
teilprivatisiert wurde. In drei Börsengängen wurden
zwischen dem 18.11.1996 und dem 19.06.2000 zusammen
1,194 Milliarden T-Aktien für zusammen rund
33 Milliarden Euro verkauft. 20 Milliarden
davon flossen in die Kassen der Telekom, da beim ersten und
zweiten Börsengang eine Kapitalerhöhung mit neu
ausgegebenen Aktien erfolgte. Beim dritten Börsengang verdiente
hingegen der Bund: Damals wurden
200 Millionen Aktien zum Stückpreis von 66,50 EUR
verkauft. Der Erlös von 13,3 Milliarden Euro
floss in die Staatskasse.
Zwar stieg der Kurs der T-Aktie auch in den Monaten nach dem dritten Börsengang noch weiter, bis im März 2000 das Allzeithoch von 103 Euro erreicht wurde. Wer die Gewinne jedoch nicht mitgenommen hatte, verlor dann schnell das meiste seines Investments, denn die T-Aktie fiel bis unter 10 Euro. Von diesem Absturz hat sich die Aktie bis heute nicht richtig erholt. 2015 wurden die bisherigen Höchststände von gut 17 Euro erreicht, derzeit notiert die T-Aktie um die 15 Euro.
Wer die T-Aktie zum ersten Börsengang für 28,50 DM (14,57 Euro) erworben hatte, kann sich nicht allzu sehr beklagen: Zwar ist die Aktie heute kaum mehr wert als damals, aber in Summe wurden seit dem Börsengang 13,74 Euro an Dividenden ausgeschüttet. Das ursprüngliche Investment wurde also in etwa verdoppelt. Allerdings beträgt die Inflation von 1996 bis 2020 bis heute auch ca. 40 Prozent. Wenn man dann noch die Steuern auf die Ausschüttungen abzieht, wird klar, dass man unterm Strich mit der T-Aktie nicht viel Geld verdient hat, aber auch keines verloren hat.
Wer im November 1996 statt der volatilen T-Aktie sichere Bundesanleihen gekauft hat, durfte sich zehn Jahre lang über immerhin 5,1 Prozent Zinsen freuen. Im November 2006 gab es bei der Wiederanlage dann noch 3,7 Prozent Zins, während man sich im November 2016 mit 0,0 Prozent für die dritten zehn Jahre zufriedengeben musste. In Summe hätte man - wiederum ohne Steuerabzug und ohne Wiederanlage gerechnet - mit dem konservativen Investment also ca. 88 Prozent Zinsen verdient. Man läge also nur geringfügig schlechter als beim Kauf der Aktie.
Streit um den Börsenprospekt
Beim dritten Börsengang der Telekom wurden 200 Millionen Aktien verkauft
Bild: picture alliance/dpa | Oliver Berg
Angesichts der drastischen Kursverluste - wer zum dritten
Börsengang zugeschlagen hatte, verlor in der Spitze über
87 Prozent seines Investments - war Ärger
vorprogrammiert und es kam zur Klage von Kleinaktionären.
Denn die Telekom hatte zu allen drei Börsengängen jeweils einen
Verkaufsprospekt erstellt. Im Nachhinein zeigte sich bei allen
drei, dass Chancen überbewertet und Risiken heruntergespielt
wurden. Aber ist es nicht
sogar die Pflicht des Managements, optimistisch zu sein? Und
wo genau endet der legale Zweckoptimismus und beginnt die
unerlaubte Schönfärberei, die zu Regressansprüchen der
Anleger führt?
Und selbst, wenn es Schönfärberei war: Hat der Anleger damals den Börsenprospekt überhaupt gelesen und verstanden, oder sich vor allem beim dritten Börsengang einfach nur von der Euphorie treiben lassen? Immerhin hatte sich der Wert der T-Aktie seit dem ersten Börsengang schon mehr als vervierfacht, da schien der weitere Aufstieg quasi unaufhaltbar. Dass mit dem Kurs auch die mögliche Fallhöhe gestiegen war, dürfte den meisten Anlegern, die mit dem 3. Börsengang eingestiegen waren, nicht bewusst gewesen sein. Das ist aber auch nicht der Fehler der Telekom, wenn Anleger auf Basis einer Euphorie statt auf Basis einer soliden Bewertung von Chancen und Risiken kaufen.
Das sind alles fordernde juristische Fragen, die für die zuständigen Gerichte überwiegend juristisches Neuland sind. Und so pendelt der Prozess nun schon in der dritten Schleife zwischen dem OLG Frankfurt und dem BGH hin und her. Jedes Mal fällt das OLG Frankfurt ein Urteil, jedes Mal kassiert es der BGH wieder. So auch dieses Mal: Zwar enthält der Prospekt zum dritten Börsengang nach (inzwischen) übereinstimmender Feststellung von OLG Frankfurt und BGH insofern einen Fehler, als ein Sondergewinn von 8,2 Milliarden Euro aus der internen Umschichtung einer Beteiligung am US-Konzern Sprint falsch als "Verkaufserlös" deklariert worden war. Sprint war aber nicht an einen externen Dritten, sondern nur an ein anderes Unternehmen innerhalb des Konzerns verkauft worden. So entstanden durch den Verkauf zwar Buchgewinne, aber kein realer Zufluss von Finanzmitteln.
Die rechtliche Frage, die das OLG Frankfurt nach Ansicht des BGH aber nicht ausreichend geklärt hat, ist, ob diese Falschdarstellung auch für den starken Kursrückgang der T-Aktie verantwortlich war. Am Ende könnte das Urteil also lauten: Der Prospekt war zwar falsch - aber es gibt dennoch kein Geld, weil die Aktie wegen des Platzens der Dot-Com-Blase abgestürzt ist, nicht wegen des Fehlers im Prospekt.
Ein Zwischenurteil, zwei Gewinner
Noch liegt der aktuelle Beschluss des BGH nicht vor. Sobald dieser ausformuliert und an das OLG Frankfurt übermittelt worden ist, wird dieses die Ausführungen des BGH würdigen und dann voraussichtlich das verlangte Gutachten beauftragen. Die Seite (Telekom bzw. Aktionärsschützer), die laut dem Gutachten unterliegt, wird dann noch entsprechende Gegengutachten anfertigen und einreichen, und dann wird im Zweifelsfall noch ein Gutachter beauftragt werden, um die beiden Gutachten zu bewerten und deren Unterschiede dem Gericht zu erläutern. Da Aktienkurse höchst volatil sind und viel von Trends und Zukunftsaussichten beeinflusst werden, gibt es entsprechend viele Möglichkeiten, die Auswirkungen von Management-Fehlern (wie hier die Fehlangaben im Prospekt) einzuschätzen. Entsprechend kontrovers dürften die Gutachten ausfallen, und entsprechend lange dürfte es dauern, bis sich die Frankfurter Richter ein klares Bild dazu gemacht haben.
Der Prozessausgang ist also, über 20 Jahre nach dem dritten Börsengang der Telekom, weiterhin offen. Beide Seiten - Deutsche Telekom wie Anlegerschützer - konnten in dem Verfahren vor dem BGH nämlich einen Punktgewinn verzeichnen. Die Telekom setzte sich damit durch, dass ein Gutachten über den Einfluss des Prospektfehlers erstellt werden muss. Und die Anlegervertreter konnten durchsetzen, dass die Telekom, sollte sie darauf bestehen, dass den Käufern durch den Fehler im Prospekt kein Schaden entstanden ist, weil sie den Prospekt gar nicht gelesen hatten, das mit dem "nicht gelesen" auch beweisen muss. Es kommt diesbezüglich sogar noch dicker für die Telekom: Selbst, wenn nur der Anlageberater in der Bank den Prospekt gelesen und daraufhin dem Anleger die Teilnahme am 3. Börsengang empfohlen hat, gilt das bereits als "mittelbarer Prospekteinfluss". Dass es einen solchen Einfluss nicht gab, wird die Telekom daher für kaum einen Anleger beweisen können. Von daher hat hier die Klägerseite obsiegt.
Welchen Einfluss hat der Prospekt?
Bleibt die Frage des "Einfluss des Prospektfehlers auf den Börsenkurs". Fachkundigen, die eine Bilanz lesen können, müsste der Fehler im Prospekt beispielsweise sofort aufgefallen sein, da der bei einem Verkauf des Sprint-Anteils zu erwartende Mittelzufluss in der Bilanz fehlt. Also kann er deren Bewertung der Telekom-Aktie nicht beeinflusst haben, weil sie die Situation insgesamt doch richtig eingeschätzt haben. Mit dem Markt und den damals üblichen Elefantenhochzeiten vertraute Personen wussten ebenfalls, dass die Telekom ihren Anteil an Sprint noch hielt. Auch sie waren durch den Darstellungsfehler also vermutlich nicht beeinflusst.
Denn - Darstellungsfehler hin oder her - war der Hauptgrund für die hohe Bewertung der Telekom zum Zeitpunkt des dritten Börsengangs zweifellos die dot-com-Euphorie. Diese bescherte teilweise selbst Unternehmen mit horrenden Anlaufverlusten Milliarden-Bewertungen, nur, weil sie viele Kunden in als wichtig erachteten Zukunftsmärkten gewonnen hatten und dort als quasi uneinholbare Marktführer galten. Und der ganze Absturz danach erfolgte - Prospekt hin oder her - überwiegend deswegen, weil sich die Bewertungen einfach wieder normalisierten.
Klar wäre die T-Aktie weniger stark abgestürzt, hätte die Telekom ihren Sprint-Anteil zu Zeiten der Euphorie nicht nur zugunsten von Buchgewinnen intern umgehängt, sondern zugunsten von echten Gewinnen extern verkauft. Dann hätte sie entsprechend mehr Geld in der Kasse gehabt, das ihr in der mageren Zeit der Jahre 2001 und danach eine höhere Bewertung gesichert hätte.
Doch es folgt das große Aber: Hätte die Telekom das viele schöne Geld auch behalten? Oder hätte sie nicht die Milliarden aus dem Sprint-Anteils-Verkauf in eine andere Beteiligung - wie beispielsweise die im Juli 2000 begonnene Übernahme des US-Unternehmens Voicestream für 50,7 Milliarden Dollar - gesteckt? Sprich: Wäre das Geld nicht trotzdem weg gewesen, weil damals - nicht nur bei der Telekom - das Motto war: "Fressen oder gefressen werden!" Wer selber nicht schnell wächst, wird zum Übernahmekandidaten und muss dann zusehen, wie andere die Kontrolle übernehmen. Das wollte Telekom-Chef Ron Sommer natürlich nicht und kaufte auf Pump ein, was ging. Geld war damals kein Problem.
Wenn die Telekom das Geld doch behalten hätte, dann wären nach dem Platzen der dot-com-Blase entsprechend 8,2 Milliarden Euro mehr Eigenkapital da gewesen. Umgerechnet auf die 4,2 Millionen T-Aktien, die nach der Voicestream-Übernahme im Umlauf waren, sind das knapp 2 Euro pro Aktie, die die T-Aktie nach dem Platzen der dot-Com-Blase mehr Wert gewesen wäre.
Die Anleger bzw. deren Erben dürften freilich wenig begeistert sein, wenn sie nur 2 Euro von ihren ursprünglichen 66,50 Euro pro Aktie zurückerhalten. Möglicherweise werden noch nicht einmal diese gezahlt werden, wenn die Richter der vorgenannten Argumentation mit dem "großen Aber" folgen, dass die Telekom damals das Geld doch ausgegeben hätte. Denn nicht nur die Anleger haben damals jede Menge "heiße Luft" gekauft, sondern auch die Konzerne untereinander.
Prozess bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag
Der eigentliche Skandal ist allerdings nicht die möglicherweise doch nur sehr geringe Entschädigung, sondern die unendliche Dauer des Verfahrens. Schon Ende 2016, vor gut vier Jahren, hatte ich diese mit deutlichen Worten als Klage bis ans Ende aller Zeiten kritisiert und damals - wohl halbwegs zutreffend - abgeschätzt, dass die nächste Runde nochmal vier Jahre dauernd dürfte. Dass jetzt nochmals eine Runde angehängt wird und danach bei einem positiven Ausgang des Musterverfahrens auch noch Einzelverfahren drohen, macht die Sache wirklich nicht schön. Es muss nicht 25 Jahre dauern, um zu entscheiden, ob ein Prospekt richtig oder falsch war, und wer die Beweislast dafür trägt, ob der Anleger den Prospekt gelesen hat oder nicht.
Leidtragende sind am Ende die Anleger. Sie wissen nicht, worauf sie sich verlassen können. Ich persönlich gehe davon aus, dass die Wirkung der Telekom-Prospekt-Hängepartie deutlich über die T-Aktie hinausgeht. Wenn die Richter die Entscheidung, wo genau die Grenze zwischen "erlaubtem Zweckoptimismus" und "glatter Lüge" liegt, immer wieder vertagen, dann erleichtert das beispielsweise nicht gerade die Arbeit der Börsenaufsicht, die dann ebenfalls nicht weiß, was sie prüfen darf oder nicht. Skandale wie der um den Finanzdienstleister Wirecard, der über Nacht vom Stern im DAX zum Pleiteunternehmen wurde, weil Aktiva von 1,9 Milliarden Euro sich in Luft auflösten, sind die Folge.