Editorial: Die Kontrolle UND die Freiheit zurückerlangen
Ich surfe und lese viel im Web, aber selten hat mich ein populärwissenschaftliches Werk derart beeindruckt wie What happens next von Marcel Salathé (Epidemiologe) und Nicky Case (Coder und Künstler). In einem gut und unaufgeregt geschriebenen Text fassen sie die bisherigen Erkenntnisse zum Coronavirus zusammen, und das ohne Übertreibungen oder Verharmlosungen, ohne Schuldzuweisungen oder Polemik, aber mit einer klaren und nachvollziehbaren Handlungsaufforderung zum Schluss. Wer das englischsprachige Original nicht so gut lesen kann, dem empfehle ich die ebenfalls verfügbare Deutsche Übersetzung.
Vor kurzem habe ich mit meinem Chefredakteur gesprochen und dabei
gestand er mir, dass er damals, Anfang Februar, als ich die
Absage des Mobile World Congress empfohlen
hatte, das als verfrüht und unnötig empfand. Zur Erinnerung: Damals,
als ich wohl als einer der ersten die Empfehlung zur Absage des Kongresses
gegeben hatte,
gab es noch keine 15 000 bestätigten Covid-Fälle weltweit und
knapp über 300 Tote. Doch seitdem sind die Zahlen explodiert:
Die Fallzahlen haben sich seitdem verdreihundertfacht, die Todeszahlen
gar vertausendfacht.
Editorial: Die Kontrolle UND die Freiheit zurückerlangen
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Die später tatsächlich erfolgte Absage des Mobile World Congress hat
mit Sicherheit mitgeholfen, diese Explosion zumindest etwas zu bremsen.
Zum einen, weil mit der Absage ansteckende Kontakte zwischen Menschen
vermieden wurden. Zum anderen, weil die Absage des Mobile World Congress
die erste Absage eine Großveranstaltung in Europa war, und dieses eine
starke Signalwirkung hatte. In den folgenden Tagen wurden in schneller
Folge weitere, genauso gefährliche Großveranstaltungen in Europa abgesagt
oder verschoben. Von daher hat der Kongress durch sein Nicht-Stattfinden
tatsächlich zur Verbesserung der Lebensqualität in Europa beigetragen,
bzw. genauer gesagt einen noch stärkeren Rückgang der Lebensqualität
verhindert.
Herdenimmunität nicht erreichbar
Im Februar und Anfang März wurde in Europa, auch in Deutschland von Christian Drosten und Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Ziel der "Herdenimmunität" ausgegeben: Nach und nach sollten sich ausreichend viele Menschen infizieren, damit diese immun werden und sich das Virus nicht mehr weiterverbreiten kann. Leider drohten aber zu viele Menschen auf einmal krank zu werden, und dann wären die Krankenhäuser überlastet worden und Kranke hätten nicht mehr angemessen versorgt werden können. In der Folge wurde die Leitlinie: "Flatten the curve" ausgegeben: Bessere Hygiene und die Vermeidung von Kontakten sollten die Infektionen so stark reduzieren, dass das Gesundheitssystem nicht mehr überlastet wird.
Quelle: https://ncase.me/covid-19/
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Die Zahlen bleiben auch dann erschreckend hoch, wenn man sich auf eine größere Datenbasis bezieht: In Spanien, das bereits 27.500 Covid-Tote gemeldet hat, haben sich nach dem Ergebnis von Querschnittstests bisher lediglich 5 Prozent der Bevölkerung angesteckt und damit immunisiert. Auch hier erhält man, wenn man das auf die Einwohnerzahl Deutschlands und die für die Herdenimmunität nötigen 60 bis 80 Prozent Durchseuchung hochrechnet, bis zu 750 000 Tote. Berücksichtigt man zudem, dass von den heute bereits Infizierten in Spanien voraussichtlich einige weitere Tausend in den kommenden Wochen sterben werden, und rechnet man noch eine Dunkelziffer für am Virus gestorbenen, aber nie getesteten Personen ein, dann kommt man ebenfalls wieder auf die bereits genannte Zahl von einer Million Opfer. Von der Financial Times aufbereitete Daten aus Großbritannien deuten übrigens darauf hin, dass in Großbritannien die Dunkelziffer der nicht registrierten Covid-Toten bei über 50 Prozent liegt. In Spanien ist sie aber hoffentlich nicht ganz so hoch, da in Spanien intensiver auf Covid getestet wird.
Zudem weiß noch niemand, ob die Immunität nach einer Coronavirus-Infektion zehn Jahre, zehn Monate oder gar nur zehn Wochen anhält. Angesichts der genannten Zahlen und der Unsicherheit ob der Immunität sind längst alle vernünftigen Epidemiologen und Politiker vom Ziel der Herdenimmunität abgerückt. Es wird weiterhin von "Flatten the curve" geredet, aber auch davon, dass die Infektionsrate R dauerhaft unter 1,0 gehalten werden muss, um eine zweite Welle zu vermeiden. Erst dann, wenn eine Region komplett Covid-frei ist, kann man die Restriktionen zurücknehmen, muss dann aber darauf aufpassen, dass keine neuen Fälle importiert werden.
R < 1,0 ist erreichbar
Zum Glück ist das Ziel R < 1,0 tatsächlich erreichbar. Verschiedene Maßnahmen drücken die Infektionsrate: Bessere Hygiene (insbesondere häufigeres Händewaschen), Verringerung der Zahl der Kontakte, das Tragen von Mund-Nasen-Schutz und die Testung samt Nachverfolgung und Isolation von Kontakten (englisch test, trace and isolate) haben alle einen positiven Effekt. Man kann sich streiten, welche Maßnahme wie viel bringt, und die Effizienz der Maßnahmen ist sicher auch regional verschieden. Werbung für bessere Hygiene bringt beispielsweise dort nicht viel, wo die Hygienestandards eh bereits hoch sind.
Schaut man sich aber die Kosten (in Form von verlorener Wirtschaftskraft und Einschränkungen der persönlichen Freiheit) der einzelnen Maßnahmen an, und wägt diese mit dem Nutzen ab, dann erkennt man schnell: Der Lockdown ist zwar am wirksamsten, aber auch mit Abstand am teuersten. Die erfolgreiche Covid-Bekämpfung sollte daher auf eine Kombination aller anderen Maßnahmen setzen: Werbung für bessere Hygiene, das Tragen von Mund-Nasen-Schutz in der Öffentlichkeit, insbesondere im Nah- und Fernverkehr und im Supermarkt, sowie das umfangreiche Testen und Nachverfolgen von Kontakten, möglichst unterstützt durch eine Kontaktverfolgungs-App.
Was das Testen bringt, sieht man im internationalen Vergleich: Deutschland hat - bezogen auf die Einwohnerzahl - nur ein Viertel bis ein Achtel der Todesfälle von Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien oder Belgien. Dabei hatte insbesondere Italien sogar deutlich früher als Deutschland den harten Lockdown verfügt. Aber Deutschland hatte in der Anfangszeit besser getestet als Italien, wenn auch nicht genug, um die Seuche durch die Tests alleine unter Kontrolle zu halten.
In Kombination mit Mund-Nasen-Schutz und regelmäßiger Werbung für gute Hygiene (ja, da braucht es die Dauerberieselung, damit die Bürger nicht müde werden, gerade, wenn die Fallzahlen wieder sinken!) sollte ein stringentes Test-and-Trace-Programm reichen, die Infektionsrate dauerhaft unter 1,0 zu halten. Shopping und Urlaubsreisen sind damit hoffentlich schon bald wieder möglich. Saufgelage am Ballermann oder Après-Ski-Parties in Ischgl werden hingegen wegen der sehr hohen Infektionsgefahr nicht nur an den genannten Orten noch etwas länger verboten bleiben. Warum die genannten Maßnahmen wahrscheinlich reichen, erläutern Salathé und Case ausführlich auf der bereits empfohlenen Seite What happens next. Ich kann die Seite - oder deren Deutsche Übersetzung wirklich nur empfehlen.