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20 Jahre Wikipedia: Ein Weltwunder mit Herausforderungen

Unter den 20 popu­lärsten Websites der Welt ist Wiki­pedia die einzige ohne kommer­zielle Absichten. 20 Jahre nach ihrer Grün­dung bezwei­felt kaum jemand mehr ihren Nutzen. Das Jahr­hun­dert­pro­jekt muss sich aber verän­dern.
Von dpa /

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Bild: dpa, Bearbeitung: teltarif.de
Nach­schla­gewerke als dicke, in Leder gebun­dene Bücher sind nicht ausge­storben, auch 20 Jahre nach der Grün­dung der Online-Enzy­klo­pädie Wiki­pedia nicht. Doch während die klas­sischen Lexika nur noch in wenigen Haus­halten zu finden sind und dort oft genug in den Bücher­regalen verstauben, begleitet die Wiki­pedia die Nutzer im Alltag. So schauen sich einer Studie zufolge zumin­dest Menschen in den reicheren Indus­trie­staaten (OECD) im Durch­schnitt neun Wiki­pedia-Artikel pro Monat an.

Der wich­tigste nicht-kommer­zielle Dienst der Internet-Geschichte begann am 15. Januar 2001 wie so viele Online-Projekte mit dem Gruß der Program­mierer: "Hello World". Wiki­pedia-Mitbe­gründer Jimmy Wales tippte die beiden Worte in eine neue Wiki-Soft­ware ein, die einen schnellen Aufbau eines Online-Lexi­kons ermög­lichen sollte.

Frei­wil­lige und ehren­amt­liche Mitar­beiter

Der Mann aus den Südstaaten der USA hatte schon kurz nach dem Studium an den aufblü­henden Finanz­märkten Geld genug gemacht, um ein sorgen­freies Leben führen zu können. Mit zwei Part­nern grün­dete er 1996 die Firma Bomis, die ähnlich wie Yahoo einen Webka­talog pflegte. Zum Angebot von Bomis gehörte auch "The Babe Engine", eine Such­maschine für Bilder von spär­lich beklei­deten Frauen.

Wales verfolgte aber auch schon damals den Plan, ein Online-Nach­schla­gewerk aufzu­bauen. Der erste Ansatz für Nupedia war ganz klas­sisch. Mit Larry Sanger stellte Wales im Jahr 2000 einen Chef­redak­teur ein. Dieser sollte Beiträge bei Experten bestellen und für die Veröf­fent­lichung sorgen. Doch der fest­gelegt sieben­stu­fige Review-Prozess erwies sich als teuer und inef­fizient. Es wurden viel zu wenige Artikel veröf­fent­licht, im ersten Jahr nur 21.

Das Expe­riment mit der Wiki-Soft­ware war eigent­lich nur als ein Sammel­becken gedacht, wo die ersten Ideen für Online-Enzy­klo­pädie im Internet zusam­men­getragen werden sollten, sagt der öster­rei­chi­sche Wirt­schafts­wis­sen­schaftler Leon­hard Dobusch, der über die Wiki­pedia geforscht hat. "Aber sehr schnell zeigte sich dann, dass dieses Sammel­becken das eigent­lich Span­nende war. Denn während die eigent­lich ursprüng­lich von Wales geplante Enzy­klo­pädie sehr schnell schei­terte, entwi­ckelte sich Wiki­pedia rasant, zog eine große Zahl von frei­wil­ligen und ehren­amt­lichen Mitar­bei­tenden an und hatte inner­halb von Wochen schon Tausende von Arti­keln produ­ziert." 20 Jahre Wikipedia 20 Jahre Wikipedia
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Von Anfang an "Trolle" und "anar­chis­tische Typen"

Sanger verließ Wiki­pedia Anfang 2003 und sagte in einem Inter­view, er habe die Nase voll von den "Trollen" und "anar­chis­tischen Typen", die "gegen die Idee sind, dass jemand irgend­eine Art von Auto­rität haben sollte, die andere nicht haben".

Doch diese Kritik konnte den Aufstieg nicht verhin­dern: 20 Jahre nach der Grün­dung gibt es mehr als 55 Millionen Beiträge in knapp 300 Spra­chen, verfasst von unzäh­ligen Frei­wil­ligen.

Im Buch "Wiki­pedia-Story" des lang­jäh­rigen Insi­ders Pavel Richter lobt Wiki­pedia-Mitbe­gründer Wales dabei die Rolle der deutsch­spra­chigen Commu­nity: "Kurz nachdem wir die deut­sche Wiki­pedia gestartet haben, stellte sich heraus, dass die Deut­schen offenbar ein beson­deres Verhältnis zur Idee hinter Wiki­pedia haben. Denn wie sonst ließe sich erklären, dass Deutsch zwar auf der Liste der am häufigsten gespro­chenen Spra­chen welt­weit nur auf Platz 13 steht, die deut­sche Wiki­pedia aber die viert­größte aller Ausgaben ist?"

Wenn nur die Artikel von mensch­lichen Autorinnen und Autoren gezählt würden, läge die deut­sche Wiki­pedia sogar direkt hinter der engli­schen Ausgabe an der Spitze. Die Versionen auf Platz zwei (Cebuano, eine auf den Phil­ippinen gespro­chene Sprache) und drei (Schwe­disch) wurden nämlich mit Texten von umstrit­tenen Soft­ware-Robo­tern des Schweden Lars Sverker Johansson aufge­blasen.

Deutsch­spra­chige Commu­nity gegen Kommer­zia­lisie­rung

Die deutsch­spra­chige Commu­nity hat auch stark dazu beigetragen, dass sämt­liche Ideen einer Kommer­zia­lisie­rung der Wiki­pedia verworfen wurden. "Niemand wurde durch sie zum Milli­ardär, Werbung gibt es nicht", stellt Richter fest, der von 2011 bis 2014 Vorstand und Geschäfts­führer der deut­schen Wiki­media-Förder­gesell­schaft war. Zunächst sei die Wiki­pedia nur als ein Inter­net­pro­jekt von ein paar Nerds ange­sehen worden. Etablierte Nach­schla­gewerke hätten sie zunächst igno­riert, schließ­lich heftig bekämpft.

Die renom­mierten Lexika hat Wiki­pedia aber seit Jahren hinter sich gelassen. Micro­soft stellt sein Lexikon Encarta 2009 ein. Nach 244 Jahren gab der Verlag der Ency­clo­paedia Britan­nica 2012 bekannt, dass diese nur noch digital erscheint. Zwei Jahre später zog der deut­sche Brock­haus - der hier­zulande das Maß aller Nach­schla­gewerke war - nach (Brock­haus online im Test). Die Wiki­pedia kommt dagegen mit vergleichs­weise kleinen Summen aus: Die Wiki­media Founda­tion, die die Infra­struktur des Online-Lexikon finan­ziert und mehr als 100 Program­mierer bezahlt, nimmt jähr­lich über 120 Millionen Dollar an Spenden ein. Der deut­sche Förder­verein Wiki­media Deutsch­land verfügt mit über 80.000 Mitglie­dern über einen Jahres­etat von rund 18 Millionen Euro.

Auch in der Wiki­pedia gibt es Fehler

Wie alle Medi­enpro­jekte, an denen Menschen mitar­beiten, ist die Wiki­pedia nicht fehlerlos. So wurde erst nach Jahren entdeckt, dass der Rhein nicht 1320 Kilo­meter lang ist, sondern nur 1230 Kilo­meter. Der Zahlen­dreher stand zuvor aber auch in gedruckten Lexika.

Gravie­render sind Fehl­leis­tungen wie die falsche Behaup­tung, dass in einem deut­schen Konzen­tra­tions­lager in Warschau 200.000 Polen vergast worden seien. Es gibt zwar keinen Zweifel, dass es das Konzen­tra­tions­lager Warschau gegeben hat, dieses war aber kein Vernich­tungs­lager, wie 15 Jahre lang in der engli­schen Wiki­pedia zu lesen war. "Es bleibt ein dunkler Schatten auf der Geschichte der Wiki­pedia, in diesem zentralen Fall über einen so langen Zeit­raum versagt zu haben", schreibt Richter. Siehe dazu auch: Wiki­pedia - sechs Fehler, die für Aufsehen gesorgt haben.

Immerhin ist der Beitrag um das Warschauer Lager auch ein Beweis, dass bei wich­tigen Wiki­pedia-Arti­keln früher oder später die Quali­täts­kon­trolle doch funk­tio­niert. Wiki­pedia-Forscher Dobusch sieht das Fehler­risiko bei kleinen Beiträgen höher als bei großen Themen: "Wenn ich die Wiki­pedia benutze, dann muss mir bewusst sein, dass die Wiki­pedia umso vertrau­ens­wür­diger ist, je popu­lärer und wich­tiger ein Thema ist. Denn das bedeutet, dass mehr Menschen sich dafür inter­essieren, mehr Menschen diese Artikel lesen, drüber­schauen oder Fehler bean­standen und korri­gieren."

Quali­täts­siche­rung nur mit funk­tio­nie­renden Commu­nities

Mitbe­gründer Wales betont oft, dass funk­tio­nie­rende Wiki­pedia-Commu­nities die Voraus­set­zung für eine Quali­täts­siche­rung seien: "Commu­nities, in denen die Mitglieder respekt­voll und freund­lich mitein­ander umgehen; Commu­nities, die offen sind für Menschen aus jeder Reli­gion, jeden Geschlechts, jeder poli­tischen Ausrich­tung und jeder sozialen Herkunft." Aller­dings kommt die Wiki­pedia bei dieser Heraus­for­derung seit Jahren nicht von der Stelle. Rund 90 Prozent der Autoren sind Männer, die meisten von ihnen aus west­lichen Indus­trie­nationen. Und nicht wenige meinen, dass die Diskus­sions­kultur in der Wiki­pedia-Gemeinde stark verbes­serungs­würdig sei.

Ein Impuls für die Zukunfts­fähig­keit der Wiki­pedia kommt aus der deutsch­spra­chigen Commu­nity, nämlich Wiki­data. "Das ist die Idee hinter Wiki­pedia - nur für maschi­nen­les­bare Wissens­daten­banken", erläu­tert Richter in einem Gespräch mit der dpa. Die Zukunft werde der künst­lichen Intel­ligenz gehören. "Darin sind sich eigent­lich alle einig." Mit Wiki­data werde eine große und wich­tige Basis, nämlich struk­turiertes maschi­nen­les­bares Wissen, von Anfang an auf eine gemein­nüt­zige Basis gestellt und durch die Kraft einer starken Commu­nity getragen. "Das bedeutet, dass wir als Gesell­schaft nicht in die Abhän­gig­keit von Google, Face­book und Alibaba und anderen Inter­net­riesen kommen."

Wiki­pedia-Gründer Jimmy Wales will übri­gens seit einiger Zeit ein eigenes Online-Netz­werk als Alter­native zu Face­book und Co. aufbauen. WT:Social soll wie Wiki­pedia ohne Werbung auskommen.

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