Editorial: Die chinesische Invasion
Tik-Tok ist einst als Musical.ly gestartet und hat die Welt erobert
Bild: Picture Alliance / dpa
Eigentlich sollte die Meldung kein Politikum sein: Mit
TikTok erobert gerade ein neues
soziales Netzwerk die Smartphones der Menschen. So, wie bei Facebook
und Instagram auch, die zunächst von den Jugendlichen adaptiert wurden,
inzwischen aber auch längst bei den älteren Generationen angekommen
sind, wird auch TikTok zunächst von den Jungen adaptiert. Da hilft,
dass TikTok vor allem auf verspielte Inhalte setzt. Videokaraoke und
Katzenvideos sind hoch im Kurs. Richtig, damit wurde auch YouTube groß,
bevor auch dort die ältere Generation das Netzwerk kaperte und sich
inzwischen auch über Sportevents und Tagespolitik dort austauscht.
Damit es nicht zu ernst wird in den Inhalten von TikTok, sind die Videos derzeit auf eine Spielzeit von einer Minute limitiert. Das verstärkt den Fokus auf die Spaß-betonte, jugendliche Zielgruppe. Die sucht sich - wie auch jede Generation vor ihr - vor allem während der Pubertät ihr eigenes, von den älteren unabhängiges Netzwerk. TikTok kann also vor allem deswegen so schnell wachsen, weil Facebook und Instagram bereits so erfolgreich und omnipräsent sind. So weit, so normal.
Angst vor Datenabfluss
Tik-Tok ist einst als Musical.ly gestartet und hat die Welt erobert
Bild: Picture Alliance / dpa
Zum Politikum wird TikTok aber deswegen, weil das soziale Netzwerk aus
China kommt. Dort stehen die zentralen Server, dort wird die Software
entwickelt und das Marketing gemacht. Dasselbe China, dem beide großen
US-Parteien - Demokraten wie Republikaner gleichermaßen - den Kampf
angesagt haben. Weil sie es als undemokratisch ansehen und ihm den
Diebstahl von Technologie vorwerfen, letzteres nicht nur, aber vor allem
beim neuen Netzstandard 5G.
Nun ist es tatsächlich so, dass Technologiefirmen in autokratisch reagierten Ländern meist darben, weil sie keine gut ausgebildeten Mitarbeiter finden. Wo religiöse Gebote wichtiger sind als ethische Grundsätze, wo die Befindlichkeiten des Herrschers wichtiger sind als die Nöte des Volkes, dort versiegt der Dialog über die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft und dort kennt sich dann auch kaum einer mehr so richtig aus. Kommen dann noch Menschenrechtsverletzungen hinzu, suchen alle die, die fähig sind, sowieso schnellstmöglich das Weite oder konzentrieren ihre Fähigkeiten auf das Überleben in einem feindlichen Regime. Alles das trägt zwar auf der einen Seite dazu bei, die Herrschaft der Autokraten zu sichern, verhindert aber auf der anderen Seite auch große wirtschaftliche Erfolge im harten internationalen Wettbewerb.
China ist seit vielen Jahren die große Ausnahme von dieser Regel. Denn China ist tatsächlich ein Einparteienstaat, der abweichende politische Ansichten unterdrückt. Die nationale Kommunikation wird streng überwacht. Vielen passte das nicht, und sie suchten sich einen Job im Ausland. Viele amerikanische Großstädte haben einen Stadtteil, der im Volksmund "Chinatown" heißt, weil so viele Exilchinesen dort leben. Oft sind die Bewohner dort sehr gut ausgebildet, im Vergleich zu ihren Fähigkeiten aber unterbezahlt. Gerade die amerikanischen IT-Giganten, also Microsoft, Apple, Google, Facebook, Amazon und die anderen, haben von diesen günstigen und guten Arbeitskräften profitiert.
Trend zurück
Jüngst erzählte mir eine befreundete chinesische Ärzten, dass der Trend inzwischen in die andere Richtung geht: China bezahlt gerade Spitzenkräfte selber besser als das Ausland. Zugleich fühlen sich Chinesen dank der zunehmenden rassistischen Hetze inzwischen weltweit weniger sicher. Bei der Wahl zwischen zwei Übeln - politische Unfreiheit und Kontrolle im Inland versus unkontrollierte politische Freiheit eines gefährlichen rechtsradikalen Mobs im Ausland - sehen immer mehr die Überwachung im Inland als das kleinere Übel. Sie sehen auch, welche Erfolge diese Überwachung erzielt, beispielsweise im Kampf gegen Covid.
Dass das Einparteien-China dennoch funktioniert, hat aber noch weitere Gründe. Anders als viele andere autokratische Systeme hat China bisher nicht die Ausbildung der Jugend torpediert. Insbesondere verzichtet China auf die Verbreitung religiöser Dogmen. Und der Sozialismus wurde auch über Bord geworfen. Wirtschaftlicher Wettbewerb ist also ausdrücklich erwünscht. Politischer Wettbewerb bleibt hingegen verboten.
TikTok als Vorreiter
Nach all dem Gesagten war es nur eine Frage der Zeit, dass es China nicht nur bei der Fertigung der Hardware, sondern auch der Software gelingen würde, die bisher so erfolgreichen US-Firmen auszubooten. Huaweis Erfolg bei 5G ist bereits vor allem auf Software zurückzuführen. TikTok ist sogar zu 100% Software.
Verständlich, dass die US-Administration nun gegensteuern und den Verkauf zumindest des US-Geschäfts von TikTok an ein US-Unternehmen erzwingen will. Andernfalls drohen sie, die App in den USA zu verbieten. Letzteres könnten sie gut damit begründen, dass die Server von WhatsApp, Facebook und Co. in China nicht erreichbar sind, weil diese sich nicht der chinesischen Zensur unterwerfen. Nur: Zensur mit Zensur zu vergelten, heißt, sich selber stark in Richtung der Autokratien zu bewegen. Eigentlich wollten die USA ja besser sein.
Und: Ist die Büchse der Pandora erstmal offen, werden sich auch andere daraus bedienen. WhatsApp und Facebook in der EU verbieten, weil sie sich nicht an EU-Datenschutzstandards halten? Künftig möglich, TikTok ist das Vorbild! Google-Steuer in Südamerika, Microsoft-Bann in Behörden und sicherheitskritischen Unternehmen in Afrika, die Liste lässt sich fortsetzen. Am Ende wären die USA der große Verlierer einer in getrennte IT-Domänen zerfallenden Welt.