Gigaset E720H Test: Leicht zu bedienen, aber mit Schwächen
Die ersten schnurlosen Telefone für zu Hause in Deutschland waren illegal. Die damals staatliche Deutsche Bundespost (West) brauchte sehr lange, bis erste Modelle im Frequenzbereich bei 900 MHz legal zugelassen werden konnten. (Wer noch so ein Schätzchen noch besitzt, darf und sollte es heute nicht mehr betreiben, weil diese Frequenzen längst dem Mobilfunk zugeteilt wurden.)
Das Unternehmen Siemens war lange der Haus- und Hof-Lieferant der Bundespost. Die (schnurlosen) Telefone für daheim von Siemens hießen eines Tages Gigaset und dann wurde die schnurlose Telefonsparte bei Siemens ausgegliedert und verkauft. Heute ist die Firma Gigaset (wieder) in Bocholt, wo auch (wieder) Handys (zusammen)gebaut werden.
Wichtiger Player
Das Gigaset E270A ist Made in Germany, genauer in Bocholt (NRW)
Foto: Henning Gajek / teltarif.de
Bei den schnurlosen Telefonen ist Gigaset weiter einer der wichtigsten Player im Markt. Zugelassene schnurlose Telefone arbeiten heute nach dem DECT- bzw. cat-IQ-Standard und funken bei etwa 1900 MHz mit 24 Zeitschlitzen und einer Spitzensendeleistung von 250 mW. Die Mittlere Sendeleistung beträgt aber nur 10 mW, denn je nach Abstand zur Basis wird die Leistung geregelt. Die illegalen schnurlose Telefone von damals, die seinerzeit auf 49 oder 79 MHz funkten, gibt es längst nicht mehr.
Viele schnurlose Modelle von Gigaset bekommt man heute wahlweise als reinen DECT-Hörer (mit Ladeschale), als DECT-Hörer mit passender Basisstation (in der Ladeschale). Wenn man will, kann in der Basis noch ein digitaler Anrufbeantworter enthalten sein, in letzterem Falle endet die Typenbezeichnung dann mit einem "A". Das von uns ausprobierte Gigaset E720A hat einen Neupreis von knapp 120 Euro, wobei es bei verschiedenen Anbietern relativ geringe Preisunterschiede gibt.
Gigaset sieht sein E720 als "elegantes IP-/Seniorentelefon" zum Anschluss an Basisstationen oder Router, welche eine DECT-Schnittstelle haben. Das könnte eine Fritz!Box oder eine Telekom Speedport Router oder ein anderer Hersteller sein.
Als Besonderheit bietet der Hörer des E720 eine Rufnummernansage, Bluetooth, SOS-Funktion und möchte sich mit großem Display und einfacher Bedienung an ein älteres oder mit Technik wenig erfahrenes Publikum richten. Das E720 wird "Made in Germany" geliefert, die internen Komponenten dürften jedoch auch aus anderen Ländern stammen.
Mein Telefon spricht!
Im Karton finden sich die Basisstation mit Anrufbeantworter, das Mobilteil, ein Netzgerät, ein Telefonkabel (Western-TAE) und zwei AAA Akkus
Foto: Henning Gajek / teltarif.de
Dem Gigaset wurde vom Hersteller eine Rufnummernansage spendiert. Sie hat zwei Funktionen: Tippt man beim Wählen langsam die Zahlen ein, so spricht das Telefon mit "Null Drei Null Vier ..", tippt man zu schnell, verschluckt sich die Ansage. Für Personen mit eingeschränktem Sehvermögen ist die Schriftgröße im Display des Hörerteils ab Werk auf extra groß eingestellt.
Kommen Anrufe herein, sagt das Telefon die anrufende Nummer an, deren Namen (falls sie im Telefonbuch wären) verriet uns unser Testgerät aber nicht. Ob die angepeilte Zielgruppe alle wichtigen Rufnummern im Kopf parat hat, darf bezweifelt werden. Laut Gigaset-Webseite soll die Ansage des Namens hingegen möglich sein.
Sollte der Anrufer nach dem ersten Klingeln schon aufgelegt haben, kann es sein, dass das Telefon davon unbeeindruckt noch eine ganze Weile länger nachklingelt.
Praktisch: Die Extra-Laut-Taste
Die große seitliche Taste erlaubt es die Gespräche lauter zu stellen
Foto: Gigaset
In manchen Situationen kann es gar nicht laut genug sein. Bei der Hörerlautstärke hat der Nutzer die Wahl zwischen fünf Stufen. Sollte das auch nicht ausreichen, kann der Pegel mit der seitlichen Extra-Laut-Taste verdoppelt werden und zwar nur für das aktuelle Gespräch, damit ein nachfolgender Nutzer des Telefons sich nicht erschreckt. Zwei Klangprofile zur Betonung von hohen oder tiefen Frequenzen können das persönliche Hörvermögen des Anwenders unterstützen.
Bluetooth für Zusatzhörer oder Adressbuch-Austausch
Originell ist die Idee, dem Hörer eine Bluetooth Schnittstelle zu verpassen, die dem Bluetooth-Standard 4.2 entspricht und somit erlaubt, nicht nur Bluetooth Headsets am Telefon zu betreiben (wie man es vom Handy kennt), sondern auch ein etwaiges Hörgerät des Nutzers (z.B. von Phonak, Unitron und eventuell noch weiterer Hersteller, deren Geräte Bluetooth 4.2 mit den Protokollen HSP und HFP unterstützen) am Telefon andocken.
Mit Bluetooth kann man ein Headset oder ein Hörgerät anschließen, oder Telefonbucheinträge vom Smartphone oder zum Smartphone transferieren
Foto: Gigaset
Aber nicht nur das: Kann ein vielleicht auch vorhandenes Smartphone mit dem Versand von VCF-Dateien über Bluetooth etwas anfangen, können auch Adressbucheinträge vom Gigaset zum Smartphone oder umgekehrt übertragen werden. Das war bei unserem Test aber etwas schwierig: Ein Blackberry Key2LE (Android) beispielsweise akzeptierte die Anforderung immer erst im zweiten Durchgang. Dann klappte es in beide Richtungen. Ein iPhone SE (2020) von Apple nahm per Bluetooth zunächst mit dem Gigaset Kontakt auf, verlor aber danach die Lust und brach ab. Man sollte wissen, dass es verschiedene Bluetooth-Varianten gibt, die nicht miteinander kompatibel sind.
Dabei ist es sicher praktisch, das Telefonbuch des neuen schnurlosen Telefone per Bluetooth beladen zu können. Das endlose Eintippen von Namen und Telefonnummern kann für technisch wenig bewanderte Anwender zur Qual werden. Hier sollte eine helfende Hand in der Familie oder im Bekanntenkreis zu finden sein.
Nervige Anrufer ausblenden
Ist ein Anrufer vertrauenswürdig (sprich im eigenen Telefonbuch gespeichert) leuchtet der Anrufer in grün
Foto: Gigaset
Ab und zu rufen Leute an, mit denen man lieber nichts zu tun haben will. Sofern diese gar keine Rufnummer übertragen, können diese sofort ausgefiltert werden. Noch schärfer ist die Filterung nach Telefonbuch, das Telefon klingelt dann nur noch, wenn jemand aus dem Telefonbuch anruft. Eine Zeitsteuerung kann das Klingelsignal außerhalb definierter Zeiten ausschalten.
Die Funktion "seriöser Anrufer" ist simpel: Ist der Anrufer im eigenen Telefonbuch aufzufinden, leuchtet das Anruferdisplay grün. Immerhin kommen auch "neue" oder "unbekannte" Anrufer durch.
Anpassung an laute Umgebung
Bei lauter Umgebung ist eine automatische Anpassung der Tonruf- und Hörerlautstärke möglich. Anrufe können statt mit hörbaren Klingeltönen auch optisch signalisiert werden.
Bei Bedarf kann das Telefon auch als Babysitter verwendet werden. Übersteigt die Lautstärke im Zimmer einen bestimmten Wert, ruft das Gerät eine vorher definierte Nummer an. Die Eltern beispielsweise könnten dann mit dem Kind sprechen. Der Babyruf ist 20 Sekunden nach dem Einrichten aktiv und reagiert auf Umweltgeräusche, wie Stimmen oder auch Radio oder Fernsehen. Ruft das "Baby" zu oft an, kann der Babyruf am Zielapparat mit "9#" aus der Ferne auch deaktiviert, dann aber nicht mehr reaktiviert werden. Das muss dann wieder manuell am Gigaset-Gerät erfolgen.
Direktwahl im Ernstfall
Für Personen, die nicht gut sehen können, sind große Ziffern auf dem Display eine Wohltat
Foto: Henning Gajek / teltarif.de
Wenn es mal ernst wird, erlauben vier Direktwahltasten (A-D) einen sofortigen Ruf per einfachem Tastendruck aufzubauen. Taste A löst die SOS-Funktion aus, das könnte die 112 sein. Besser ist wohl, eine vorher eingeweihte Person (Kinder, Verwandte, Nachbarn) abzuspeichern, die dann auch erreichbar sind (evtl. mit Anruf auf dem Handy).
Wenn gewünscht, kann für ankommende Anrufe die automatische Rufannahme mit Freisprechfunktion aktiviert werden, falls der angerufene Teilnehmer nicht mehr in der Lage ist, das Telefon selbst zu bedienen. Für die Nutzung der Freisprech-Mikrofon-Funktion sollte sich aber das Mobilteil möglichst in der Nähe des Sprechers befinden.
Dank DECT GAP auch an fremden Stationen
Der Gigaset E720 Hörer lässt sich mit Hilfe des DECT-GAP-Protokolls auch direkt an "fremden" Basisstationen betreiben. Wir haben das testweise an einem Speedport-Pro-Router der Telekom ausprobiert. Dann sollte man beim Kauf aber die reine Hörervariante mit Ladeschale wählen, denn sonst hat man eine Ladestation mit einem nicht nutzbaren Anrufbeantworter oder müsste das analoge Signalkabel an die Telefonbuchse des Routers anschließen.
Der Anrufbeantworter ist in der Basisstation eingebaut. Es werden alle oder nur nicht abgehörte Nachrichten angezeigt
Foto: Henning Gajek / teltarif.de
In der Basisstation ist ein digitaler Anrufbeantworter integriert. Der erlaubt bis zu 30 Minuten Aufnahmezeit und die Ansage kann individualisiert werden. Ein großes, grünes Display zeigt neue (noch nicht abgehörte) und alle Anrufe an. Das Abhören kann über den Hörer oder an der Basisstation erfolgen.
Die Stromversorgung
Der Hörer des E720 wird von zwei Micro-Akkus (Größe AAA, Kapazität 750 mAh) versorgt. Die geben dem Hörer Strom für einige Tage mit viel StandBy und wenigen Telefonaten. Um die Akkus nicht zu ermüden, kann man den Hörer morgens von der Station nehmen und abends wieder auflegen, vielleicht auch erst am zweiten oder dritten Tag.
Wie lösche ich mein Telefon?
Gigaset ist aus der Siemens AG hervorgegangen. Geblieben ist die "Siemens-Sachnummer", die hier mit S30852 beginnt
Foto: Henning Gajek / teltarif.de
Kleine Manko am Rande: Möchte man sein Telefon später verkaufen und vorher seine privaten Daten löschen, ist einiges zu tun. Mit dem einfachen Reset der Basisstation oder des Hörers ist es nicht getan. Das Telefonbuch muss explizit gelöscht werden (immerhin alle Einträge auf einmal möglich) und die Funktionstasten A-D müssen Stück für Stück einzeln gelöscht werden.
Ein Fazit:
Das Angebot an schnurlosen Telefonen ist groß. Das Gigaset E720 bietet eine Menge an Funktionen fürs Geld, ist aber auch für eine bestimmte Zielgruppe gedacht. Ob man diese speziellen Funktionen wirklich braucht, sollte man sich vor dem Kauf überlegen und sich beispielsweise im Laden noch andere Modelle zeigen lassen oder die Anbieterseiten im Internet genau studieren.
Lobenswert ist im Prinzip die Idee der Bluetooth-Kopplung, die allerdings auch davon abhängt, ob die verwendeten Geräte mit dem Bluetooth des Gigaset klar kommen.
Die Sprachsteuerung ist ebenfalls noch ausbaufähig. Moderne Technik ist in der Lage, die abgespeicherten Namen ankommender Anrufer vorzulesen, viele Smartphones können das heute schon.