Abhängig

Süchtig nach dem nächsten Chat - wenn das Internet abhängig macht

Schulden im Hunderttausenderbereich
Von dpa / Frank Rebenstock

Andreas Mandewirth klingt ganz gelassen, wenn er über seine Erfahrungen im Cyberspace plaudert. Dabei hat er auch die dunklen Seiten des Internets zu Genüge kennen gelernt: "Ich war süchtig", sagt der Solinger. "Ich konnte nicht mehr ohne. Es ist vorgekommen, dass ich am Samstagnachmittag ins Netz gegangen bin und sonntagmorgens noch online war." Satte 14 Stunden Dauersurfen war sein persönlicher Rekord. "Auf Partys bin ich früh nach Hause gegangen, nur um an den Computer zu kommen", erzählt er. "Ich hatte bald mehr Freunde im Internet als reale."

Der Bezug zur Wirklichkeit drohte damals verloren zu gehen - bis die nächste Post von der Telekom und das böse Erwachen kam: "Ich habe noch alte Telefonrechnungen um die 3 000 Mark rumliegen", sagt Mandewirth. "Die sind jetzt alle bezahlt, aber zwischendurch hat mich die Telekom auch mal abgeschaltet." Dass die Abhängigkeit vom Netz ins Geld gehen kann, ist auch die Erfahrung von Michael Wedekind, Suchtberater beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) in Münster: "Wir wissen von Fällen, in denen sich die Schulden durch unkontrollierte Internetnutzung auf Beträge im Hunderttausenderbereich summiert haben."

Solche krassen Fälle hält Wedekind zwar für Ausnahmen. "Aber durch so etwas können Existenzen vernichtet werden", sagt Mandewirth. Dessen Internet-Sucht liegt inzwischen fast vier Jahre zurück. Das Thema treibt ihn aber immer noch um: Im Juni 1999 hat er den Verein Hilfe zur Selbsthilfe für Onlinesüchtige (HSO) mitgegründet. Zwar hat die HSO - aus Geldmangel, wie Mandewirt betont - Ende April die Arbeit eingestellt. Der Solinger betreut in seiner Heimatstadt aber weiterhin einen Gesprächskreis für Betroffene.

Eine solche Selbsthilfegruppe leitet auch Wolfgang Grünewald in Stolberg bei Aachen - ebenfalls ein früherer "Netz-Junkie". Das Internet selbst mache zwar nicht süchtig, sagt er, "aber es bietet einfache Fluchtmöglichkeiten vor Problemen". Der totale Rückzug aus der Realität führe dann dazu, dass die Kontakte zu Freunden und der Familie immer flüchtiger werden. "Manche kommen schon zur spät zur Arbeit, weil sie morgens noch ins Netz mussten. Und im Büro gehen die gleich wieder online", erzählt Grünewald. "Ich kenne Leute, die haben manchmal den ganzen Tag vor dem Computer gesessen, ohne zwischendurch zu essen und zu schlafen. Die Frage ist immer, wann fängt die Sucht an."

Mit solchen Problemen beschäftigen sich auch die Wissenschaftler am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie und Gesundheitspsychologie der Humboldt-Universität in Berlin, die an dem Langzeit-Projekt "Stress und Sucht im Internet" (http://www.internetsucht.de [Link entfernt] ) mitarbeiten. Eine Pilotstudie, bei der im Jahr 1999 Daten von rund 9 000 Netzsurfern erhoben wurden, kam zu dem Ergebnis, dass Internetsucht nur bei gut drei Prozent der Teilnehmer festzustellen war.

Mit dem Begriff Sucht nicht allzu schnell zur Hand zu sein, empfiehlt auch Professor Ulrich Hegerl von der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Natürlich hängen viele stundenlang vor dem Computer", so der Mediziner. "Aber andere hocken genauso lange vor dem Fernseher. Das muss nicht gleich Sucht sein." Hegerl leitet zusammen mit seinem Kollegen Oliver Seemann seit 1998 an der Psychiatrischen Klinik die Internetsucht-Ambulanz - ein Hilfsangebot für Netz-Junkies, die das Gefühl haben, sich im Cyberspace zu verlieren. "Das wird allerdings nicht sehr intensiv genutzt. Wir hatten vielleicht 20 Leute in den vergangenen sechs Monaten", sagt der Wissenschaftler.

Krankhafte Internetnutzung im medizinischen Sinn sei nach seiner Erfahrung eher die Ausnahme. Darauf deutet auch die Untersuchung hin, die in der Münchener Klinik durchgeführt wurde: Die Kriterien für eine Internet-Abhängigkeit wie Schuldgefühle beim Surfen, der Wunsch, vom Netz loszukommen oder Kontrollverlust über die Surf-Dauer trafen auf 4,6 Prozent der rund 1 000 Teilnehmer der Online-Befragung zu. "Die Zahl ist aber in keiner Hinsicht repräsentativ", räumt Hegerl ein. Der Anteil unter der Gesamtbevölkerung oder auch nur unter den Internet-Nutzern insgesamt dürfte noch deutlich niedriger sein.

"Exzessives Surfen ist ein anderes Thema", sagt Hegerl. "Auch das kann negative Auswirkungen haben, auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, in finanzieller Hinsicht oder bei Jugendlichen auf die Leistungen in der Schule." Wer ständig vor dem Rechner sitzt, surft und chattet, kann leicht in einen Teufelskreis geraten: Weil viel Zeit für das Surfen drauf geht, gehen soziale Kontakte verloren. Weniger Freunde und Bekannte führen wieder dazu, dass der Cyberspace als Gegenwelt noch wichtiger wird.

Auch wenn das noch kein Suchtverhalten sei, bestehe Grund zur Sorge. Ähnlich wie bei übertriebenem Fernsehkonsum empfiehlt Hegerl in solchen Fällen, den Zugang zum Computer zu kontrollieren und im Blick zu behalten, wie lange die Kinder im Netz unterwegs sind. Wie bei anderen Suchtgefahren auch kommt es auf den kontrollierten Umgang mit der "Droge" an. Den hat Andreas Mandewirth inzwischen gelernt: "Ich bin jeden Tag online", sagt er, "aber nie vor 21 Uhr und nicht nach 23 Uhr." Und im Web ist der ehemalige Netz-Süchtige sogar mit einer eigenen Homepage vertreten.