Sucht

Macht das Internet süchtig?

Die Gefahren der Online-Abhängigkeit
Von Christian Horn

"Die Ärzte sahen bei diesen Patienten dieselben Anzeichen von Entzugserscheinungen wie bei Alkohol- und Drogenabhängigen, wie übermäßiges Schwitzen, schwere Angstzustände und paranoide Symptome." Die erschütternde Diagnose der Doktoren am Proctor Hospital in Peoria, Illinois, lautet: Internet-Sucht. Ärzte, Psychologen und Psychiater in Amerika sehen sich mit einer neuartigen Krankheit konfrontiert. Die Online-Abhängigkeit lässt Ehen scheitern, Online-Süchtige verlieren ihre Jobs, geraten ins soziale Abseits, verfallen in Depressionen und leiden unter paranoiden Wahnvorstellungen. "Die Spezialsten vermuten, dass sechs bis zehn Prozent der geschätzten 189 Millionen Internet-Nutzer dieses Landes unter einer Abhängigkeit leiden, die so destruktiv wie Alkoholismus oder Drogensucht ist", deckt ein Bericht der New York Times die dunklen Seiten der großen Freiheit Internet auf.

Die Kontrolle über die eigenen Online-Gewohnheiten geht verloren

Völlig übertrieben, wiegelt Sara Kiesler ab. Die Professorin für Computer-Wissenschaften und Mensch-Computer-Interaktion an der Carnegie Mellon Universität hält die TV-Sucht für gefährlicher. "Es gibt absolut keine Belege dafür, dass der Zeitvertreib online und der Austausch von E-Mails mit Familie und Freunden auch nur im geringsten schädlich sein kann", sagt die Professorin. Trotzdem steigt die Zahl derer, die bei Psychologen Rat und Hilfe suchen, weil sie die Kontrolle über ihre eigenen Online-Gewohnheiten verloren haben, kontinuierlich, und selbst die stationäre Behandlung der Online-Sucht ist längst nicht mehr der Ausnahmefall. Die Psychologin Dr. Hilarie Cash, die schon seit zehn Jahren Online-Abhängige behandelt, ist der Überzeugung, dass die Internet-Sucht eine potentiell schwerwiegende Krankheit ist. Sie hat Suizid-gefährdete Patienten behandelt, die wegen ihrer Internet-Sucht die Arbeit verloren, oder deren Ehen zu Bruch gingen. Menschen, die ohnehin schon mit Problemen wie Depression und Angstzuständen geplagt sind, sind die typischen Opfer der Online-Sucht. Doch die allgegenwärtige Verführung des Cyberspace lockt selbst manchen Gesunden in die Suchtfalle, berichtet Hilarie Cash.

Drei Stunden Internet am Stück sind die Minimal-Dosis

Skeptiker argumentieren, die Schäden, die der exzessive Gebrauch des Internet der Gesundheit und dem Sozialleben der Betroffenen zufüge, könne sich nicht mit den Schäden messen, die die anerkannten Süchte im Leben von Abhängigen anrichten. Psychologen, die Online-Sucht als ernstzunehmendes Krankheitsbild einstufen, meinen, der Großteil der krankhaft Internet-Süchtigen fröne zwar im Cyberspace ohnehin vorhandenen Lastern wie Spielsucht und Pornographie. Freier Zugang, freie Verfügbarkeit und Anonymität im Netz würden diese Abhängigkeiten jedoch verschärfen. Viele Internet-Nutzer aber hätten eine spezifische Internet-Sucht entwickelt. Jede freie Minute, etliche Stunden am Tag kleben sie an den Bildschirmen, um im Web zu surfen, pausenlos Online-Videospiele zu spielen, zwanghaft die Börsenkurse zu verfolgen, oder manisch das Internet-Handelsportal eBay nach Schnäppchen abzuklappern. Ein Patient, der sich seine Online-Sucht bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 eingefangen hat, leidet an Angst- und Beklemmungszuständen, wenn er sich nicht mehrmals täglich mit dem Besuch verschiedener News-Seiten auf dem Laufenden halten kann. Drei Stunden Internet am Stück sind für ihn die Minimal-Dosis.

Moderater und bewusster Umgang als Weg aus der Krise

Schwierig jedoch bleibt die Beantwortung der Frage, wo die genaue Grenzlinie gezogen werden soll. Wann wird aus einer Gewohnheit Sucht, wann wird ein Fimmel zur Verhaltensstörung? Als Gradmesser könne weniger die Anzahl der im Internet verbrachten Stunden dienen, vielmehr zähle, wie gravierend die Betroffenen von Folgeschäden wie Jobverlust, Familienproblemen, Depression und Isolation heimgesucht werden. Zudem müsse klar zwischen den physiologischen Abhängigkeiten wie Alkohol- und Drogensucht und den Süchten mit Verhaltensstörung unterschieden werden. Bei der Drogensucht gilt nur die totale Enthaltsamkeit als Weg aus der Krise, bei der Verhaltensstörung sei der moderate und bewußte Umgang das Ziel. Internet-Verhaltensgestörten, die nicht durch ihre Arbeit mit dem Computer konfrontiert sind, raten die Internet-Therapeuten aber zu zumindest zeitweiliger Abstinenz.