virtueller Fundamentalismus

Experte: Im Internet gehen islamistische Gruppen auf Tauchstation

Internet ist wichtiges Instrument für Spendenaquise und politische Motivation der Kämpfer
Von dpa / Marie-Anne Winter

Zahlreiche Gruppen, die islamistische Seiten ins Internet stellen, gehen nach Angaben des Gießener Islamwissenschaftlers Henner Kirchner seit den Terroranschlägen gegen die USA auf Tauchstation. "Sie warten ab und sind im Datennetz vorsichtiger geworden, weil das Publikum nach dem 11. September größer und zorniger ist", sagte Kirchner in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) in Gießen. Der Wissenschaftler forscht am Institut für Orientalistik der Gießener Universität über die Selbstdarstellung von Islamisten im Internet.

Mit ihrem Auftritt im weltweiten Datennetz wollen sich die Gruppen nach Kirchners Angaben vor allem auf dem umkämpften Spendenmarkt behaupten. Weil sie dringend auf Spenden angewiesen seien, nutzten sie das Internet als "perfekte Bühne", um mögliche Geldgeber mit ihren Aktionen zu beeindrucken. "Diese Bilanz fällt in arabischer Sprache - zum Beispiel gegenüber den reichen Golfstaaten - martialischer aus als in englischer Sprache", berichtete der 40-Jährige. Die englischen Seiten zielten mehr darauf ab, politische statt finanzieller Unterstützung zu erhalten.

Das Internet habe für die religiösen Gruppierungen enorme Bedeutung gewonnen, sagte Kirchner. "Es motiviert die Kämpfer, weil es ein Kick ist, auf der ganzen Welt gesehen zu werden." Gewalt werde daher "sehr ausufernd" dargestellt - von blutrünstigen Karikaturen und Videofilmen von Anschlägen bis hin zu Märtyrerbildern von künftigen Attentätern, die ihre Morde bisher nur geplant, aber noch nicht umgesetzt hätten.

Gerade bei überregionalen islamistischen Gruppen, die häufig aus dem Exil in London den militanten Islam im Netz verbreiten wollten, herrsche ein "ultra-aggressiver" Tonfall, berichtete der Wissenschaftler. "Da ist aber sehr viel Getrommel und wenig dahinter." Um eine Stärke zu demonstrieren, die sie nicht hätten, bastelten viele Islamisten in schäbigen Hinterhof-Büros sehr professionelle Web-Seiten.

Als Reaktion auf die Bombardierung Afghanistans sei die islamistische Szene enger zusammengerückt, sagte Kirchner. So habe die politische Partei Hamas nie viel mit Osama bin Laden zu tun gehabt, seit den amerikanischen Bomben aber sei in ihrer Zeitung im Internet bereits ein Artikel über einen engen Gefährten des Terroristen erschienen. "Es gibt jetzt eine Vernetzung."

Bei den islamistischen Gruppen gehe die Diskussion über den 11. September in eine ganz andere Richtung als in der westlichen Welt: "Weil die größte Supermacht USA Bin Laden den Krieg erklärt hat, hat sie ihn in den Augen vieler Islamisten aufgewertet - und ihn als Sinnbild des bösen Menschen höllisch attraktiv gemacht", meint Kirchner. Wenn der mutmaßliche Drahtzieher der Terroranschläge gegen die USA als "Held" sterbe, habe er gewonnen - und wenn Amerika ihn nicht schnappen könne und er überlebe, habe er erst recht gewonnen. Kirchner schätzt die Zahl der "wirklich radikalen" Internet-Seiten, die zum Beispiel zum Dschihad (Heiliger Krieg) aufrufen, auf weniger als zwölf. Weitere 500 bis 2500 "radikale" Seiten kämen aber noch hinzu.