Thread
Menü

Konjunktivismuss


13.12.2003 02:38 - Gestartet von didChina
DIE ZEIT

03/2003

Essay

Kümmelchen im Konjunktiv

Einige Vermutungen darüber, weshalb "sei" und "wäre" so oft verwechselt werden

Von Andreas Maier

Vor einiger Zeit, es war auf der Buchmesse, fragte mich ein Kritiker, warum die Leute so häufig falsche Konjunktive setzten, wenn sie die indirekte Rede gebrauchten. "Sie erzählte, sie habe dazu keine Lust gehabt, und wäre daraufhin ins Kino gegangen." Die erste Konjunktivform, habe, ist richtig, die zweite, wäre, ist falsch. Über die Regeln waren wir, der Kritiker und ich, uns sofort einig (es war auf einem Empfang).
Erste Regel: In der indirekten Rede wird Konjunktiv I gesetzt (zum Beispiel habe, sei; gebe und nicht: gäbe; also immer die schwach klingenden Formen). Regel zwei: Nur wenn Formengleichheit mit dem Indikativ besteht, wird Konjunktiv II verwendet (hätte, gäbe, also die stark klingenden Formen). Das kann der Fall sein in der ersten Person Singular, in der ersten Person Plural und in der dritten Person Plural. Daher schreiben die Zeitungen, der Kanzler (also Schröder) habe dies und das gesagt, die anderen aber hätten ihm widersprochen (und nicht: haben).
Diese zwei Regeln sind überaus leicht zu verinnerlichen. Woher dann aber, rief der Kritiker (er trank gerade ein Bier) dieses grundfalsche Wäre-hätte-sei-Gemisch, das die Leute anrichten? Ich trank nun ebenfalls ein Bier, und beide gingen wir daran, die Gründe für dieses Wäre-hätte-sei-Gemisch zu untersuchen. Solche Gespräche werden auf der Buchmesse geführt!
Wir begannen einfach und untersuchten den Satz: "Er sagte, er wäre unglücklich." Die Form wäre ist falsch, es muss sei heißen. Wie aber kommt das wäre in den Satz? Vermutung eins: Der Sprecher findet, dass das nach Konjunktiv klingt, und zwar mehr nach Konjunktiv klingt als sei. Der Kritiker argwöhnte, dass einige Sprecher sowieso nur den Konjunktiv II (wäre, löge, trüge) als Konjunktiv identifizierten und sozusagen nur auf die gröberen Reize reagierten: ä, ö, ü.
Manche (Vermutung zwei) argumentieren möglicherweise gewiefter: Es heißt, könnte man denken: "Ich sagte, ich hätte Hunger", also heißt es folglich auch: "Er sagte, er wäre unglücklich." Diese Sprecher wollen den Konjunktiv II (hätte, wäre) überall benutzen, und sie begründen das durch Beispielsätze, die auf Regel zwei beruhen, sie machen also die Ausnahme zur Regel. Aber sie machen dabei einen weiteren Fehler. Sie greifen auf die Form wäre zurück. Dabei ist der reguläre Konjunktiv sei überhaupt nie mit dem Indikativ zu verwechseln. Man muss also bei dem Verb sein nie(!) auf Regel zwei zurückgreifen. Es heißt immer: sei, seiest, sei, seien, seit, seien; es heißt nie: wäre, wären et cetera. Ich, zum Kritiker: Wenn ich einen Satz schriebe wie: "Ich sagte, ich wäre unglücklich", dann erwartete ich geradezu zwanghaft, dass ein Bedingungssatz folgte, etwa so: "Ich sagte, ich wäre unglücklich, wenn ich heute nicht das Kümmelchen sähe." Nur dort wäre ein wäre möglich.
Der Kritiker sagte, das sei zwar richtig, aber wen oder was ich denn bitte mit Kümmelchen meine. Das sagte ich ihm allerdings nicht. Der Kritiker schwieg und schaute mich an. Dann beugte er sich vor und sagte nach einer gewissen Pause fast vorwurfsvoll: Sie reden vom Konjunktiv, aber in Wahrheit reden Sie von sich. Das, sagte ich, ist vermutlich so, das ist vermutlich überhaupt immer so. Wir kehrten zurück zum eigentlichen Thema (ich trank ein weiteres Bier, der Kritiker ebenfalls).
Oft hört man vermeintliche Regeln folgender Art: Es heiße doch: "Er sagt, er habe Hunger", und das sei doch ein Satz im Präsens, nämlich: "Er sagt." Wenn der Satz aber in der Vergangenheit stehe, müsse er doch so lauten: "Er sagte, er hätte Hunger." Hier will der Sprecher eine Abhängigkeit der zu verwendenden Konjunktivform von der Zeitstufe herstellen, in der das Verb des Sagens steht. Das ist vollkommen falsch (das bekräftigten wir beide, der Kritiker und ich, mit einem ordentlichen Prost). Es heißt sowohl: "Er hatte gesagt, er habe Hunger", als auch (um als Beispiel die voneinander entferntesten Zeitstufen zu nehmen): "Er wird gesagt haben, er habe Hunger." Egal, ob das Verb des Sagens im Plusquamperfekt oder in der einfachen Vergangenheit oder wo auch immer steht, das Verb in der indirekten Rede schert sich darum einen Teufel.
Die vorangegangene Fantasieregel hat ein Pendant. Gleich ein Beispiel: Angenommen, ein Herr H. hat am Montag einen Apfel gegessen und erzählt jemandem am Dienstag, dass er am Montag einen Apfel gegessen habe. Wenn man nun das ganze Geschehen zusammenfasste, so könnte man meinen, müsste das doch so heißen: "Herr H. erzählte am Dienstag, er hätte am Montag einen Apfel gegessen." Wenn man nachfragt, wieso hier um Gottes willen der Konjunktiv II stehen soll (hätte) statt Konjunktiv I (habe), dann sagen sie: Weil Herr H. den Apfel vorher gegessen hat, weil das doch schon Vergangenheit für den Sprecher ist. Wäre diese Regel wahr, müsste das zu Folgendem führen. Man müsste sagen: "Er sagte am Dienstag, er habe Hunger" - denn er hat den Hunger dann ja gegenwärtig; aber man müsste sagen: "Er sagte am Dienstag, er hätte am Montag einen Apfel gegessen" - denn das ist ja am Dienstag schon Vergangenheit gewesen. Natürlich müssen solche Fantasieregeln jeden Sprecher in eine heillose Verwirrung stürzen.
Ein weiteres Bier, eine weitere Vermutung (eine letzte). Wer meint, ein Ohr für den Wohlklang der Sprache zu haben, ist möglicherweise eher von den Formen des Konjunktiv II angezogen: zöge, trüge, wärest, schösse, verlöre et cetera. Wenn man dann die indirekte Rede auch noch für etwas quasi Altertümliches hält, also geradezu schon für Hohen Stil, dann möchte man natürlich alles möglichst zum Klingen bringen, und man sagt also zum Beispiel: "Ulrich ließ verlautbaren, er zöge noch schnell sein Gewand an und brächte dann den Kaiser aufs Schafott." Hier hat man einige schöne Vokale gewonnen (ö, ä), allerdings fügt sich dieser Satz doch eher in jeder Hinsicht zum Missklang, trotz der Vokale.
Beide standen wir da und nickten uns zu. Der Konjunktiv, sagte der Kritiker, ist einfach, allerdings sind die Köpfe der Menschen oft kompliziert. Ich, nachdenklich: In der Tat, die Menschen machen oft aus etwas sehr Einfachem etwas sehr Schwieriges, sie verwirren noch die leichtesten Dinge. Der Kritiker schaute mich erneut an. Sie reden schon wieder von sich, sagte er. Er ahnte es.
Solche Gespräche werden auf der Buchmesse geführt, das ist die Wahrheit. Wir sprachen noch dies und das, dann gingen wir auseinander. Über das Kümmelchen sagte ich nichts mehr. Man muss ja nicht alles sagen. Man kann ja auch schweigen. Und das dann ganz ohne Konjunktiv.