Online-Sucht

Das Internet zieht Süchtige in seinen Bann

Verschiedene Studien belegen, dass ein erheblicher Anteil der Internet-Nutzer abhängig ist
Von Marie-Anne Winter

Nachdem die Berliner Humboldt-Universität in einer Online-Studie [Link entfernt] festgestellt hat, dass 3,1 Prozent von 9000 Befragten internetsüchtig sind, legte gestern auch ein Münchener Psychiater seine Ergebnisse vor. Oliver Seemann, Betreuer der Internet-Ambulanz [Link entfernt] der Universität München, stellte einen Kriterienkatalog auf, in dem sechs typische Abhängigkeitsmerkmale beschrieben werden: 1. Der Verlust des Zeitgefühls - Abhängige wissen nicht, wieviel Zeit sie im Internet verbringen, 2. Ein übermächtiges Verlangen, ins Internet zu gehen, 3. Das Auftreten von Entzugserscheinungen wie Nervosität, wenn die Verbindung unterbrochen wird, 4. Probleme mit der Familie, am Arbeitsplatz, mit dem Studium, weil so viel Zeit online verbracht wird, 5. Rückzug aus dem sozialen Leben und 6. Die Fortsetzung dieses Verhaltens, obwohl die schädlichen Konsequenzen bewusst werden. Dieser Fragenkatalog entspricht den allgemeinen medizinischen Standards zur Diagnose von Suchterkrankungen, beispielsweise der Alkoholsucht.

Von den 1000 Teilnehmern, deren Antworten Seemann auswerten konnte, wiesen 46 mindestens 5 dieser 6 Kriterien auf und müssen als Suchtkranke angesehen werden - die "Süchtigen-Quote" lag bei dieser Studie mit 4,6 Prozent also noch deutlich höher als die der Berliner Studie. Zwei Drittel der Abhängigen der Münchner Untersuchung sind männlich. Allerdings räumt der Psychiater ein, dass es sich nicht um eine repräsentative Auswahl von Internetnutzern handelt. In beiden Studien blieb es mehr oder weniger dem Zufall überlassen, wer die ins Netz gestellten Fragebögen ausfüllte. Die Psychologen der Humboldt-Universität gehen allerdings davon aus, dass die 9000 Fragebögen ihrer Untersuchung einen repräsentativen Querschnitt der deutschen Surfer darstellen.

In einer britischen Studie [Link entfernt] überließ man die Einschätzung, ob eine Abhängigkeit vorliegt, gleich den Teilnehmern: 46 von 445 bezeichneten sich selbst als Abhängige. Bemerkenswert an diesem Ergebnis ist auch, dass sich mehr Frauen als Männer zur Internetsucht bekannten. Allerdings stellt sich die Frage, ob in England der Frauenanteil unter den Surfern entsprechend höher ist als in Deutschland, oder ob Frauen schneller abhängig werden. Oder geben Frauen eher zu, dass sie süchtig sind? Diese Fragen bleiben leider offen.

Eine Süchtigen-Quote von 12,7 Prozent fand sich auch bei einer österreichischen Studie [Link entfernt] , der ein ähnlicher Kritierienkatalog der der Seemann-Studie zugrunde lag. Hier ging es um die Entwicklung von diagnostischen Kriterien für nicht-stoffgebundene Süchte, zu denen der "pathologische Internet-Gebrauch" (PIG) gehört.

Sämtliche Studien legen nahe, dass das Phänomen "Internetsucht" kein Medien-Gag ist, sondern ein ernstzunehmendes Problem darstellt - die Online-Abhängigkeit ist ein ebenso krankmachender Zustand wie jede andere Sucht. Allerdings betonen die Experten, dass nicht das Internet an sich süchtig mache, sondern solche Menschen der Internet-Sucht verfallen, die ohnehin Persönlichkeitsstörungen aufweisen. Viele der Internetsüchtigen sind beispielsweise auch alkohol- oder medikamentenabhängig. Die meisten haben ein unrealistisches Selbstbild und das Internet bietet ideale Bedingungen, sich hinter einer erfundenen Persönlichkeit zu verstecken. Im virtuellen Raum kann man darstellen, was man im realen Leben nicht erreicht - ohne dabei erwischt zu werden. Die Internetsucht ist nur der Ausdruck einer inneren Krankheit, die psychotherapeutisch angegangen werden muss. Der virtuelle Gang zum Online-Psychologen empfiehlt sich hier ausdrücklich nicht. Erfolgversprechender ist die Offline-Version, die ein Feedback von realen Menschen einschließt. Wer sein eigenes Internetverhalten testen will, dem sei dieser Fragenkatalog [Link entfernt] ans Herz gelegt.