Übersehen

Editorial: Blind durch die Nacht

Ubers schrecklicher Unfall mit einem autonomen Fahrzeug zeigt, dass die Firma noch lange nicht so weit ist, wie sie für die Teilnahme am Straßenverkehr sein müsste.
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Die meisten Berufskraftfahrer hätten schneller reagiert

Der erste meiner Kritikpunkte ist relativ leicht aus dem von der Polizei auf Twitter veröffentlichten Video der Aufzeichnungen der beiden Überwachungskameras des Unfallautos (eine blickt nach vorne, die andere überwacht die Kontrolleurin des Autos, letztere ist zum Zeitpunkt des Unfalls leider abgelenkt) am leichtesten zu erkennen: 3,3 Sekunden nach Beginn des Videos wird überhaupt erstmal etwas von der Fußgängerin sichtbar, nämlich ihre weißen Schuhe. Bei 3,6 Sekunden sieht man klar das Fahrrad, das sie schiebt, die blaue Hose und natürlich weiterhin die weißen Schuhe. Bei 4,1 Sekunden sieht man auch ihren Kopf und erahnt ihre schwarze Jacke, und bei 4,4 Sekunden stoppt die weitere Wiedergabe, weil der Zusammenstoß unmittelbar bevorsteht.

Dass die Fußgängerin so von unten nach oben sichtbar wird, hängt mit dem Abblendlicht zusammen, das von oben nach unten strahlt: Je näher die Fußgängerin dem Auto kommt, desto höher ist der ausgeleuchtete Bereich.

Nun gibt man für durchschnittlich erfahrene Autofahrer an, dass diese bei Gefahr im Durchschnitt 1,0 Sekunden - die berühmte Schrecksekunde - benötigen, um auf diese Gefahr zu reagieren. Besonders erfahrene Autofahrer reagieren allerdings deutlich schneller als der Durchschnitt, insbesondere bei Standardsituationen, wie hier der Fall. Die Mehrheit der Berufskraftfahrer hätte daher auch dann, wenn so plötzlich wie in diesem Fall eine Fußgängerin im Scheinwerferlicht auftaucht, zumindest mit dem Bremsen begonnen. Das hatte das autonome Auto von Uber nicht.

Dabei sollte autonomes Fahren besser sein als der Mensch, nicht schlechter.

Das Kamerasystem ist offensichtlich nachtblind

Die Seheigenschaften des menschlichen Autos sind immer noch denen vieler Kameras überlegen. Ein Grund hierfür ist auch, dass das Auge über zwei unterschiedliche Rezeptorenklassen verfügt: Neben den nur jeweils bestimmte Lichtfarben wahrnehmenden Zapfen gibt es noch die wesentlich empfindlicheren Stäbchen, die aber keine Farben unterscheiden können. Fehlen oder funktionieren im Auge die Stäbchen nicht richtig, spricht man von Nachtblindheit, die Betroffenen können in unbeleuchteten Bereichen nichts erkennen.

Wenn das von der Polizei Tempe veröffentlichte Video von derjenigen Kamera stammt, die auch vom Computer zur Auswertung der Verkehrslage verwendet wird, dann ist das System offensichtlich nachtblind. Die Sichtweite beträgt nur etwa 25 Meter - übrigens weniger als die Hälfte der hierzulande üblichen Reichweite des Abblendlichts. Zu jedem Zeitpunkt des Videos sind links vom Auto beispielsweise nur zwei bis drei der Striche zur Spurmarkierung zu erkennen. Alles, was weiter weg ist, verschwindet wie hinter einer schwarzen Wand.

Es kann und darf nicht sein, dass ein autonomes Fahrzeug nachts nur eine derart schlechte Kamera verwendet.

Das Lidar-System hat komplett versagt

Autonome Fahrzeuge verwenden neben der optischen Kamera mindestens ein weiteres System, um zu erfassen, ob die Strecke vor ihnen frei ist. Im Falle von Uber ist das Lidar, das ähnlich funktioniert wie Radar, nur mit Infrarotlicht statt Radiowellen. Da es nachts weniger Fremdlicht gibt als tagsüber, arbeitet Lidar nachts grundsätzlich sogar besser als bei Tageslicht.

Normalerweise hätte das Lidar die Fußgängerin und deren Bewegung von links nach rechts schon aus sicherer Entfernung von mindestens 70 bis 100 Metern erkennen müssen und die Software dann sofort einen Abbremsvorgang einleiten müssen. Warum das Lidar versagt hat, kann nur spekuliert werden. Möglicherweise arbeitet das Lidar-System von Uber nur auf einer festen Höhe, und das Lidar-Infrarotlicht wurde von der schwarzen Jacke der Fußgängerin nicht ausreichend reflektiert. Möglicherweise war auch der Computer, der das Lidar auswertet, gerade abgestürzt oder dessen Software in einer Endlosschleife gefangen.

Es ist allerdings müßig, derzeit zu spekulieren, warum das Lidar versagt hat, das wird hoffentlich der finale Unfallbericht klären. Trauriger Fakt ist, dass das Lidar versagt hat.

Die Software hat wie ein abgelenkter Mensch reagiert

Wie schon geschrieben: Über eine Sekunde vor dem Aufprall wird die Fußgängerin, die ein Rad schiebt, deutlich sichtbar. Zwar hätte der Unfall bei der gefahrenen Geschwindigkeit nur dann sicher vermieden werden können, wenn die Software binnen ca. 0,3 Sekunden nach dem ersten Erkennen der weißen Turnschuhe eine Notbremsung einleitet. Aber selbst dann, wenn sie erst 0,3 Sekunden nach dem Sichtbarwerden der blauen Hose reagiert, wäre wahrscheinlich das Schlimmste verhindert worden: Denn selbst eine halbe Sekunde Bremsung mit 1,0 g reicht immerhin im konkreten Fall, um das Tempo des Autos von 40 Meilen pro Stunde auf 9 Meilen pro Stunde zu senken. Durch die verringerte Geschwindigkeit "gewinnt" das Auto auch weitere ca. 0,1 Sekunden an weiterer Zeit bis zur Kollision, die auch zu weiterer Bremsung um 2 Meilen pro Stunde führt. Bei gebremst 27 Mph ist die kinetische Energie des Aufpralls gegenüber 40 Mph ungebremst aber bereits mehr als halbiert!

Auch die Sicherheitsfahrerin, die mit im Auto saß, aber anscheinend - ihr Blick geht nach unten - mit der Überwachung des Computers beschäftigt war, hat nicht reagiert. Beide waren abgelenkt.

Das Auto fuhr mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit

Das Uber-Fahrzeug darf im Sinne der Systemredundanz nur so schnell fahren, dass bei Ausfall eines Überwachungssystems (wie hier dem Lidar) das andere System reicht, um das Auto sicher zu steuern. Bei einer Kamera-Sichtweite von ca. 25 Metern ergibt sich nach den Faustformeln aus der Führerscheinprüfung für den sicheren Anhalteweg eine maximale Geschwindigkeit von etwa 37 km/h, entsprechend 23 Meilen pro Stunde. Das Fahrzeug fuhr aber 40 Meilen, was mit der Kamera allein ganz offensichtlich nicht sicher möglich war. Von daher liegt eine (geschätzt) um über 70 Prozent überhöhte Geschwindigkeit vor. Wenn die Kamera allein nachts auf unbeleuchteten Straßen keine Fahrten schneller als 23 Mph zulässt, dann darf das Uber eben nicht schneller fahren. Auch nicht, wenn das Lidar als zweites System unterstützt, denn dann hat man keine Redundanz mehr, wenn man schneller fährt.

Definitiv hat die achtlose Fußgängerin eine erhebliche Mitschuld, wenn nicht gar die Hauptschuld an dem Unfall, weil sie auf unbeleuchteter Straße direkt vor einem herannahenden Fahrzeug die Fahrbahn quert. Es reicht aber nicht, auf das falsche Verhalten der Frau hinzuweisen. Das Uber darf die Frau nicht einfach überfahren, nur, weil sie sich falsch verhält.

Zudem gibt es ja auch andere Dinge, die das Fahrzeug möglicherweise genauso viel zu spät erkennt. Was, wenn ein Lkw-Reifen auf der Straße liegt, über den das Lidar ebenfalls "hinwegschaut", und der dank der dunklen Farbe für das Kamera-System genauso schlecht zu erkennen ist wie die Fußgängerin. Fährt dann das Uber genauso ungebremst in diesen rein? Je nachdem, wohin das Fahrzeug bei so einem Aufprall bei 64 km/h katapultiert wird, kann das übersehene Hindernis auch tödlich enden - für die Fahrzeuginsassen.

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