Warnung

Ablenkung total: Das Gehirn im digitalen Dauerstress

Lesen, Freunde in Netz­werken kontak­tieren, mit der App navi­gieren - vieles läuft digital. Wie reagiert unser Gehirn auf die neuen Reize? Was verän­dert die Dauer­präsenz von Smart­phones im Kopf des Menschen? Eine Spuren­suche.
Von dpa /

Henri­ette zögert, als sie in die winzige Kabine klet­tern soll. Wenig später sitzt die Zwei­jährige auf dem Schoß ihrer Mutter. Die Augen leuchten. Vor ihr steht ein Bild­schirm, ein Film läuft. Plötz­lich horcht sie auf. Etwas summt, ähnlich wie ein Handy. Was Henri­ette nicht weiß: Eine Spezi­alka­mera für Eye-Tracking zeichnet ihre Augen­bewe­gungen und die Pupil­lengröße auf. Henri­ette sitzt im Zentrum eines Versuchs im Kinder­labor in Magde­burg. Es geht um Aufmerk­samkeit, Ablen­kung und den Aufbau des Gehirns. Es geht um aktu­elle Forschung - auch zum Einfluss der digi­talen Dauer­bespie­lung.

Außer­halb der Kabine wandern die Blicke von Profes­sorin Nicole Wetzel zwischen mehreren Moni­toren hin und her. Zu ihr werden die Daten von Test­personen drinnen über­tragen. Weiße Bluse, dunkles Jackett, Jeans, so sitzt die 45-Jährige in dem Labor am Leibniz-Institut für Neuro­biologie. Sie möchte ergründen, wie sich Aufmerk­samkeit, Lernen und das Gedächtnis von Kindern und Jugend­lichen entwi­ckeln.

Ein heißes Thema in Zeiten, in denen viele Kids ihre Finger kaum vom Handy lassen können. In Zeiten, in denen Kran­kenkassen vor Inter­netsucht und Social-Media-Abhän­gigkeit warnen. Zwar forschen die Magde­burger ursprüng­lich allge­mein zur Hirn­akti­vität beim Lernen und Erin­nern und nicht zur Medi­enwir­kung. Doch Wetzels Aufmerk­samkeits­versuche sind ein Baustein in dem Mosaik von Studien welt­weit, die die Arbeit der Zellen im Gehirn ergründen.

Welche Spuren hinter­lässt die Dauer­präsenz von Smart­phones in unseren Köpfen? Gibt es defor­mierte Twitter- oder Face­book-Gehirne, wie manche Pessi­misten warnen?

"Grund­sätz­lich ist es so, dass wir noch relativ wenig darüber wissen, wie digi­tale Medien das Gehirn und seine Akti­vität verän­dern", sagt Nicole Wetzel. Die Expertin lächelt anste­ckend freund­lich. "Dass sie es verän­dern, ist keine Frage. Denn alles, was wir erleben, was wir lernen, egal ob wir ein Buch lesen oder eine Sand­burg bauen, verän­dert unser Gehirn. Die Frage ist nicht ob, sondern wie genau." Wege im Gehirn bildlich dargestellt Wege im Gehirn bildlich dargestellt
Bild: dpa

Handy-Klin­geln lenkt das Gehirn ab

Bei Versu­chen kontrol­liert ihr Team die Augen - wie bei Henri­ette. Die Pupillen reagieren nicht nur auf Licht, sondern auch auf kogni­tive Prozesse. "Wenn wir etwas Über­raschendes hören, weiten sich unsere Pupillen", erläu­tert die Forscherin. Eigent­lich sollen die Test­personen eine Aufgabe erfüllen. Wenn zwischen­durch ein Handy klin­gelt, können die Forscher mit ihren Eye-Trackern erkennen, dass jemand von seinem eigent­lichen Ziel abge­lenkt wird.

Eine weitere Mess­methode setzt bei den elek­trischen Strömen im Gehirn an. Dafür bekommen die Probanden Hauben mit Elek­troden für ein EEG auf den Kopf gezogen. Die Mess-Kappen zeichnen auf, welche Bezirke im Kopf in Schwung kommen, wenn ein Reiz eintrifft. Bestimmte Muster erlauben den Forschern Rück­schlüsse, wie abge­lenkt jemand ist.

"Wenn ein Stör­geräusch einge­spielt wird, reagieren die Kinder meist lang­samer oder machen mehr Fehler", sagt Wetzel. "Und je jünger die Kinder sind, desto mehr sind sie beein­träch­tigt in ihrer Leis­tung."

Nun ist unser Denk­apparat keine Fest­platte, auf der man nur spei­chert und abruft, sondern ein empfind­liches, hoch­gradig wandel­bares Organ. Das Hirn reagiert schnell auf Einflüsse von außen, es ändert seine Vernet­zungen. Experten spre­chen von Plas­tizität.

"Man kann sich das verein­facht so wie ein Wege­netz vorstellen: Am Anfang, bei einem Klein­kind, sind viele Wege ange­legt", erläu­tert Wetzel. "Und die Wege, die die Kinder häufig nutzen, die werden zu großen, breiten Straßen ausge­baut, wo der Verkehr schnell fließt." Wenig genutzte Wege verküm­mern - ihr Ausbau wird später im Leben mühsamer. "Wenn ich jeden Tag viele Male mein Handy hervor­ziehe, wird das irgend­wann auch so eine breite Straße - um im Bild zu bleiben."

Wenn Menschen in jungen Jahren schnell abge­lenkt sind von Handy-Nach­richten und Piep­tönen, wenn sie Stör­einflüsse schwer kontrol­lieren können, wird so das tiefe Verstehen behin­dert? "Da ist noch vieles offen und zu erfor­schen", sagt Wetzel. Forscher würden sehr unter­schied­liche Ergeb­nisse vermelden: Aufmerk­samkeit kann mit bestimmten Compu­terspielen trai­niert werden. Einer­seits. "Ande­rerseits wird über Zusam­menhänge zwischen über­mäßigem Medi­enkonsum und beein­träch­tigter Aufmerk­samkeit berichtet."

Smart­phone-Boom noch nicht voll erforscht

Noch ist die Digi­tali­sierung in vollem Gange. Der Smart­phone-Boom etwa läuft erst seit etwas über zehn Jahren - zu kurz für große Lang­zeit-Studien. Trotzdem: Menschen nutzen vermehrt Navi­gati­onsapps statt Stra­ßenkarten, Tablets statt Bücher, Einpark-Hilfen im Auto und spre­chende Assis­tenten zu Hause. Oft deuten sich Zusam­menhänge an, aber ob ein Geschehen wirk­lich Ursache eines Wandels im Kopf ist, bleibt häufig erstmal unklar.

In Groß­britan­nien veröf­fent­lichte die Gesund­heits­orga­nisa­tion RSPH einen Report zu sozialen Netz­werken und der Gesund­heit junger Menschen. Ein wich­tiger Punkt: Das Handy am Bett, das Checken, um nachts nichts zu verpassen, kann den Schlaf massiv stören. Einer von fünf Jugend­lichen kontrol­liere nachts seine Netz­werke. Für den Aufbau des jungen Gehirns jedoch ist viel Schlaf essen­ziell, wie die Studi­enma­cher betonen.

In den USA machte der Psycho­loge Adrian F. Ward bei zwei Versu­chen, die er 2017 mit Kollegen präsen­tierte, span­nende Entde­ckungen: Allein die Nähe des eigenen Smart­phones reicht danach aus, dass Menschen bei Test­fragen schlechter abschneiden. Liegt das Gerät in einem anderen Raum, denken Probanden mehr und antworten korrekter. Ward schluss­folgert, dass ein nahes Handy uns so in Beschlag nimmt, dass Ressourcen im Gehirn besetzt werden. Das Arbeits­gedächtnis in den Stirn­lappen der Groß­hirn­rinde, im Präfron­talen Cortex, etwa. Es kann dann weniger in anderen Feldern leisten. Wir brau­chen es unter anderem, um Sätze zu verstehen. Beim logi­schen Denken ist es eben­falls aktiv.

Span­nende Forschung in Tübingen

Dass digi­tale Tech­niken in diesem wich­tigen Hirn­teil Spuren hinter­lassen, berichten auch die Experten vom Leibniz-Institut für Wissens­medien in Tübingen. Unter­gebracht in einem impo­santen Gelb­klin­kerbau, mit Blick auf die mittel­alter­liche Innen­stadt, erfor­schen rund 90 IWM-Wissen­schaftler, wie Computer, Tablets und Internet Lernen und Lehren verbes­sern können. Sie nutzen - ähnlich wie die Magde­burger - auch Eye-Tracking und EEG-Hauben.

"Digi­tale Medien sind per se weder gut noch böse", stellt Psycho­logie-Profes­sorin Ulrike Cress, 53 und Direk­torin des Insti­tuts, klar. "Sie haben bestimmte Eigen­schaften, die das Denken beein­flussen. Wir analy­sieren, wie wir Medien besser nutzen, um Lern­prozesse zu erleich­tern. Und wie wir nega­tive Effekte vermeiden, etwa - bezogen auf das Internet - die Über­lastung des Gehirns durch zu viele Infor­mationen."

Lesen ist nicht gleich Lesen, Links lenken ab

Arbeits­grup­penleiter Peter Gerjets hat zum Stich­wort Über­lastung ein Beispiel parat: "Lesen und Lernen im Internet ist anders als im Buch", sagt der 54-Jährige. "Das liegt daran, dass digi­tale Texte andere Funk­tiona­litäten enthalten als analoge, gedruckte Texte."

Grund­sätz­lich gilt, dass Lesen, anders als Sehen und Spre­chen, nicht biolo­gisch ange­boren ist, sondern erlernt wird. Das heißt, dass das Gehirn die breiten Lese-Straßen, die Netz­werk-Verbin­dungen der Zellen, erst anlegt. Wobei ein Mensch beim Lesen Hoch­leis­tungen voll­bringt: Das Gehirn muss blitz­schnell Zusam­menhänge bilden, unsin­nige Wort-Bedeu­tungen unter­drücken und vieles mehr.

In Versu­chen ließen die Tübinger ihre Test­personen Wiki­pedia-ähnliche Texte, die Links zum Weiterkli­cken enthielten, zum Lernen nutzen. Und im Vergleich dazu Texte ohne Verlin­kungen. Das Ergebnis: Links bedeuten Ablen­kung. "Schaut man auf das gleiche Wort, wenn es als Link markiert ist, wird die Pupille messbar größer, ein Indi­kator für kogni­tive Belas­tung." Das Gehirn springt an, und zwar das Arbeits­gedächtnis. Dabei werden offenbar Ressourcen benö­tigt, die auch zum Lernen wichtig sind. Das Lern-Ergebnis kann sinken. Analoge Beschäftigung in einer Familie Analoge Beschäftigung in einer Familie
Bild: dpa

Links im Text können ablenken

"Das Span­nende ist: Links lenken sogar dann ab, wenn sie nicht aufge­macht werden - nur weil sie vorhanden sind", berichtet Professor Gerjets weiter. "Sogar wenn wir Test­personen sagen, sie sollen die Links nicht ankli­cken, sondern sich nur auf ihr Lern­ziel konzen­trieren, können wir zeigen, dass die Lern­leis­tung sinkt." Die Erklä­rung: Der Link kann einen Impuls im Kopf auslösen, den Wunsch auf die neue Netz­seite zu springen. Den muss das Gehirn unter­drücken. "Und auch ein Unter­drücken belastet das Arbeits­gedächtnis."

Ablen­kung, Unter­drücken von Impulsen, Lernen - alles fordert seinen Teil der begrenzten Ressourcen. Wie der Zusam­menhang genau ist und wie sich das lang­fristig im Kopf nieder­schlägt? Peter Gerjets' Antwort: Da muss man weit­erfor­schen.

Ähnliche Reak­tionen der Über­forde­rung vermuten die Fach­leute, wenn man sich zu komplexen, meinungs­lastigen Themen im Internet schlau machen will. "Denken Sie an das Thema Impf­schutz, was da alles durchs Netz schwirrt, auch Fake News", sagt der Psycho­loge Gerjets. Man finde zwar viele Infos. Aber, und das wäre ein Mammutjob, man müsste die Quellen auf Glaub­würdig­keit prüfen und verglei­chen - eben­falls eine Aufgabe fürs Arbeits­gedächtnis. "Dann schaltet das Gehirn irgend­wann in einen Stopp-Modus." Bei Inter­netre­cher­chen werden oft nur die ersten paar Links aufge­rufen - dann wird abge­brochen.

Trotz solcher Alarm­signale hat der Fami­lien­vater keine Bedenken, das eigene Kind per App beim Sprach­erwerb zu fördern. Und beide, er und IWM-Direk­torin Cress, sind sich einig: "Über­forde­rung und Ablen­kungs­poten­zial sind keine Argu­mente gegen ein Medium an sich, sondern gegen die unge­steu­erte Nutzung."

Dras­tischer hört sich die Analyse von Maryanne Wolf an. Die Kogni­tions- und Lite­ratur­wissen­schaft­lerin aus Los Angeles hat sich voll aufs Thema Lesen spezia­lisiert. Genauer, auf Unter­schiede zwischen Papier und Bild­schirm. Sie greift Erfah­rungen auf, die viele Menschen kennen: Wer regel­mäßig über Stunden am Bild­schirm liest, dem fällt es häufig schwerer als früher, lange Stre­cken auf Papier konzen­triert zu meis­tern. Inten­sives Lesen wird plötz­lich zum Stress.

Buch­autorin Wolf ("Schnelles Lesen, lang­sames Lesen") analy­siert, dass man digital in der Regel über weite Teile hinweg huscht. Man klopft den Text auf Schlüs­selwörter ab, über­fliegt den Rest. Dieses ober­fläch­liche Scannen sei auf Geschwin­digkeit ange­legt. Das tiefe Eintau­chen ins Geschrie­bene dagegen werde eher vom Papier geför­dert.

Blindes Vertrauen in Technik ist gefähr­lich

Passend dazu können Forscher zeigen, dass lange Infor­mati­onstexte aus Büchern und von Papier im Gehirn besser erin­nert werden, als wenn sie aus dem Netz gefischt wurden. Wolf warnt, dass sich das Gehirn durch die neuen digi­talen Lese­gewohn­heiten insge­samt daran gewöhnen könnte, flach und unge­duldig zu denken. Sie sieht die Gefahr, dass Menschen so einen Teil ihrer Fähig­keit zur Analyse komplexer Fragen verlieren. Ein Risiko auch fürs Mitdenken in der Politik, für Wahlen und Demo­kratie. Aber bewiesen, räumt Wolf ein, ist das noch nicht.

In eine ähnlich mahnende Rich­tung zielt die "Stavanger-Erklä­rung" von Anfang 2019. Maryanne Wolf hat sie unter­zeichnet, genau wie Yvonne Kammerer vom Tübinger IWM. Darin fordern mehr als 130 Experten, das analoge Lesen weiterhin zu fördern. Parallel sollten Schüler und Studenten lernen, auch am Bild­schirm verständ­nisori­entiert zu lesen. Und sie appel­lieren: Forscht weiter zu diesen Themen!

"Es gibt Hinweise, dass bei Zeit­druck das digi­tale Lesen von Sach­texten im Vergleich zum analogen nach­teilig ist - ohne Zeit­druck nicht so", sagt die 37-jährige Kammerer.

"Ich glaube, wir sind an einem kriti­schen Punkt", mahnt US-Autorin Wolf. Blindes Vertrauen in Technik sei ein Fehler. "Wir sollten beim Umschwenken zum digi­talen Lesen nicht so schnell vorwärts gehen wie bisher. Wir sollten uns Zeit nehmen, die Vorteile digi­taler Medien zu erkunden, und gucken, wie wir die Nach­teile umgehen."

Der Braun­schweiger Professor Martin Korte spricht eben­falls von einem "Über­gangs­zustand". Als Pessi­mist mag der 54-jährige Neuro­biologe nicht gelten. Handys und Tablets machten junge Menschen nicht per se dümmer als ihre Eltern - seien es die zwei­jährige Henri­ette oder heutige Teen­ager. Das Gehirn besitze eine alte Grund­struktur. "Wir haben kein Twitter-Gehirn, und wir haben auch kein Face­book-Gehirn. Wir haben die Gehirne von einer Horde von Stein­zeit­menschen, die gewohnt sind, um eine Höhle herum zu leben", sagt er. "Das wird sich sicher nicht so schnell ändern. Wir werden sicher bestimmte neue Tech­niken und Kompe­tenzen erlernen und dafür andere verlieren."

Hirn­forscher: Wir tun unserem Gehirn keinen Gefallen

Wenn der Mensch große Infor­mati­onsmengen verar­beiten soll, schaltet sein Gehirn gerne mal auf Abwehr. Fördert die Daten­flut im Internet damit Denk­blockaden? Mit solchen Aspekten digi­taler Medien befasst sich der Braun­schweiger Neuro­biologe Martin Korte. Im Gespräch mit der Deut­schen Presse-Agentur rät der Professor, mehr Wissen im eigenen Gedächtnis abzu­spei­chern, statt sich aufs Internet zu verlassen.

Erleben wir gerade eine Revo­lution des Gehirns, weil viele Menschen massiv Smart­phones und digi­tale Medien nutzen?

Ich sehe keine Revo­lution unseres Gehirns. Das Gehirn ist zwar hoch anpas­sungs­fähig im Laufe unseres Lebens. Menschen können sehr viel lernen. Aber die gene­tische Grund­konsti­tution unseres Gehirns verän­dert sich in Zeit­räumen von Zehn­tausenden von Jahren. Inso­fern erleben wir hier keine Revo­lution. Was ich eher glaube ist, dass wir einen Über­gangs­zustand erleben, in dem wir lernen müssen, mit einer neuen Tech­nologie umzu­gehen. Im Moment sehe ich jedoch Belege dafür, dass wir die digi­talen Medien so einsetzen, dass wir unserem Gehirn keinen Gefallen tun.

Was läuft schief?

Eine Sache ist, dass wir zu viel Wissen ausla­gern und nicht mehr selbst versu­chen, Wissen abzu­spei­chern. Das ist wichtig, um über komplexe Probleme nach­denken zu können und selber auf neue Lösungen zu kommen.

Was meinen Sie genau?

Es gibt Unter­suchungen mit Leuten, die mit dem Internet groß geworden sind, mit soge­nannten Digital Natives. Wenn man denen eine einfache Frage stellt, denken sie gar nicht darüber nach, ob sie die Antwort selbst wüssten, sondern nur über eine Inter­netsuche dazu. Wir können aber nur eine vernünf­tige Such­anfrage starten, wenn wir schon viel wissen. Sonst kriegt man 80 000 Antwort-Treffer in 0,4 Sekunden. Da braucht man andert­halb Lebens­zeiten, um sie zu lesen. Die meisten Nutzer lesen nur die ersten drei Treffer. Sie glauben dann, die rich­tige Antwort zu haben. Doch um die Antwort als gut oder schlecht einschätzen zu können, muss man schon eine Masse Vorwissen besitzen. Dieses Wissen sammelt man aber nicht mehr, wenn man sich aufs Netz verla­gert. Auch Wissen ist eine Kompe­tenz, die man erwerben muss.

Im Internet lassen sich doch viele Infor­mationen finden...

Ja. Aber Infor­mationen haben und Denken können ist ein Unter­schied. Um ein Thema wirk­lich zu durch­dringen, muss man selber im Kopf Dinge abge­spei­chert haben und damit arbeiten. Denn es ist eine immer wieder zu lesende Fehl­einschät­zung, dass unser Gehirn eine Fest­platte habe. Und die bräuchten wir jetzt nicht mehr, weil wir übers Internet ein viel höheres Spei­cher­volumen haben. Das Gehirn hat keine Fest­platte. Sondern wann immer wir auf einem Gebiet viel lernen, ein Experte oder eine Expertin werden, verän­dern sich im Gehirn sehr viele Prozesse. Unsere Wahr­nehmung auf das Thema funk­tioniert anders, unser Denken, unser Handeln. Smartphone-Nutzung bei Kindern Smartphone-Nutzung bei Kindern
Bild: dpa

Und was wandelt sich in der digi­talen Welt noch in den Köpfen?

Das Zweite, was sich im Gehirn verän­dert, ist, dass das Arbeits­gedächtnis kleiner wird: Unser Konzen­trati­onsver­mögen, die Zeit, wie lange wir uns konzen­trieren können, ohne uns abzu­lenken, wird kleiner. Es gibt Unter­suchungen, die zeigen, dass eine Reihe von Nutzern am Computer etwa 40 Sekunden einer Sache nach­gehen, bevor sie sich ablenken lassen. Man kann erwarten, dass das nicht zu einer sinn­vollen Arbeits­produk­tivität führt.

Um wie viel kleiner wird das Arbeits­gedächtnis?

Es gibt eine große Studie, dass wir hier von 15 auf 11 Sekunden abge­fallen sind. Wenn man Probanden bittet, ohne dass sie wissen, worauf es ankommt, sich einen Begriff eine bestimmte Zeit zu merken, dann sieht man: Früher haben sie es 15 Sekunden geschafft. Jetzt schaffen die meisten nur noch elf Sekunden. Da sind wir deut­lich abge­fallen.

Sie sagen: Es gibt Berge von Infor­mationen im Internet, die Menschen schwer bewerten können. Zugleich sind Menschen oft unkon­zentriert und machen viele Sachen gleich­zeitig. Diese Dinge spie­geln sich im Kopf?

Das Gehirn ändert seine Verar­beitungs­wege als Reak­tion auf das, was von außen rein­kommt. Wenn das Gehirn sich über­fordert fühlt von der Infor­mati­onsmenge, die es verar­beiten soll, dann passiert nicht, dass man sich hinsetzt und versucht, diffe­renzierter zu denken. Statt­dessen schaltet das Gehirn in einen Modus, undif­feren­ziert zu denken und die Infor­mationen eher abzu­wehren. Das heißt zum Beispiel für aktu­elle Debatten: Man wird es bei jemandem, der sich über­fordert fühlt, nicht schaffen, diffe­renziert etwa über einen US-Präsi­denten Donald Trump nach­zudenken. Gerade wenn man 100 Fakten vorlegt, wo dieser Poli­tiker gelogen hat, wird das Gehirn mit Vorliebe die riesige Daten­menge so stark redu­zieren, dass es nur noch schwarz-weiß gibt. Zu hohe Komple­xität führt oft zum Auswei­chen ins Verein­fachen.

Und wie sicher ist, dass das mit digi­taler Technik zu tun hat?

Ganz genaue Messungen dazu gibt es nicht, also keine 100-prozen­tige Sicher­heit über Ursache und Wirkung, weil man nur Korre­lationen, also Bezie­hungen, herstellt. Man kann zum Beispiel sagen, dass es seit 2007/08 deut­lich zuge­nommen hat, dass sich mehr Menschen über­fordert fühlen von Infor­mationen. Wir haben auch seitdem verstärkt Diskus­sionen über Schwie­rigkeiten mit sehr verein­fachten Darstel­lungen im Internet bis hin zu Falsch­darstel­lungen, also Fake News. Dieses Datum ist nicht zufällig, weil 2007 das iPhone einge­führt wurde. Kurz danach hatten in den west­lichen Gesell­schaften mehr als 50 Prozent der Leute ein Smart­phone. Seitdem wir das Internet im Telefon bei uns tragen können, ist die Infor­mati­onsmenge, mit der wir uns ständig umgeben, gewachsen.

Aber bewiesen ist die Verbin­dung nicht?

Man muss bei Korre­lationen immer aufpassen. Es gab auch eine große Wirt­schafts­krise und den Banken­zusam­menbruch 2008. Für mich ist das mit dem Smart­phone jedoch eine sehr über­zeugende Korre­lation.

Geht es also mit unseren Gehirnen abwärts?

Ich bin da nicht so pessi­mistisch. Es ist ja nicht die Schuld digi­taler Medien, dass wir uns von Infor­mationen über­lastet fühlen, sondern es geht um unsere Art der Nutzung. Bei jeder Tech­nologie braucht es eine Zeit, um sich an die tech­nischen Gege­benheiten zu gewöhnen.

Zur Person

Martin Korte (54) ist Professor in der Abtei­lung Zellu­läre Neuro­biologie an der TU im nieder­säch­sischen Braun­schweig. Er unter­sucht die zellu­lären Grund­lagen von Lernen, Gedächtnis und Vergessen. Der Hirn­forscher berät Schul­behörden zu Fragen digi­taler Medien.

Mehr zum Thema Smartphone