Ablenkung total: Das Gehirn im digitalen Dauerstress
Arbeitsgruppenleiter Peter Gerjets hat zum Stichwort Überlastung ein Beispiel parat: "Lesen und Lernen im Internet ist anders als im Buch", sagt der 54-Jährige. "Das liegt daran, dass digitale Texte andere Funktionalitäten enthalten als analoge, gedruckte Texte."
Grundsätzlich gilt, dass Lesen, anders als Sehen und Sprechen, nicht biologisch angeboren ist, sondern erlernt wird. Das heißt, dass das Gehirn die breiten Lese-Straßen, die Netzwerk-Verbindungen der Zellen, erst anlegt. Wobei ein Mensch beim Lesen Hochleistungen vollbringt: Das Gehirn muss blitzschnell Zusammenhänge bilden, unsinnige Wort-Bedeutungen unterdrücken und vieles mehr.
In Versuchen ließen die Tübinger ihre Testpersonen Wikipedia-ähnliche
Texte, die Links zum Weiterklicken enthielten, zum Lernen nutzen. Und
im Vergleich dazu Texte ohne Verlinkungen. Das Ergebnis: Links
bedeuten Ablenkung. "Schaut man auf das gleiche Wort, wenn es als
Link markiert ist, wird die Pupille messbar größer, ein Indikator für
kognitive Belastung." Das Gehirn springt an, und zwar das
Arbeitsgedächtnis. Dabei werden offenbar Ressourcen benötigt, die
auch zum Lernen wichtig sind. Das Lern-Ergebnis kann sinken.
Analoge Beschäftigung in einer Familie
Bild: dpa
Links im Text können ablenken
"Das Spannende ist: Links lenken sogar dann ab, wenn sie nicht aufgemacht werden - nur weil sie vorhanden sind", berichtet Professor Gerjets weiter. "Sogar wenn wir Testpersonen sagen, sie sollen die Links nicht anklicken, sondern sich nur auf ihr Lernziel konzentrieren, können wir zeigen, dass die Lernleistung sinkt." Die Erklärung: Der Link kann einen Impuls im Kopf auslösen, den Wunsch auf die neue Netzseite zu springen. Den muss das Gehirn unterdrücken. "Und auch ein Unterdrücken belastet das Arbeitsgedächtnis."
Ablenkung, Unterdrücken von Impulsen, Lernen - alles fordert seinen Teil der begrenzten Ressourcen. Wie der Zusammenhang genau ist und wie sich das langfristig im Kopf niederschlägt? Peter Gerjets' Antwort: Da muss man weiterforschen.
Ähnliche Reaktionen der Überforderung vermuten die Fachleute, wenn man sich zu komplexen, meinungslastigen Themen im Internet schlau machen will. "Denken Sie an das Thema Impfschutz, was da alles durchs Netz schwirrt, auch Fake News", sagt der Psychologe Gerjets. Man finde zwar viele Infos. Aber, und das wäre ein Mammutjob, man müsste die Quellen auf Glaubwürdigkeit prüfen und vergleichen - ebenfalls eine Aufgabe fürs Arbeitsgedächtnis. "Dann schaltet das Gehirn irgendwann in einen Stopp-Modus." Bei Internetrecherchen werden oft nur die ersten paar Links aufgerufen - dann wird abgebrochen.
Trotz solcher Alarmsignale hat der Familienvater keine Bedenken, das eigene Kind per App beim Spracherwerb zu fördern. Und beide, er und IWM-Direktorin Cress, sind sich einig: "Überforderung und Ablenkungspotenzial sind keine Argumente gegen ein Medium an sich, sondern gegen die ungesteuerte Nutzung."
Drastischer hört sich die Analyse von Maryanne Wolf an. Die Kognitions- und Literaturwissenschaftlerin aus Los Angeles hat sich voll aufs Thema Lesen spezialisiert. Genauer, auf Unterschiede zwischen Papier und Bildschirm. Sie greift Erfahrungen auf, die viele Menschen kennen: Wer regelmäßig über Stunden am Bildschirm liest, dem fällt es häufig schwerer als früher, lange Strecken auf Papier konzentriert zu meistern. Intensives Lesen wird plötzlich zum Stress.
Buchautorin Wolf ("Schnelles Lesen, langsames Lesen") analysiert, dass man digital in der Regel über weite Teile hinweg huscht. Man klopft den Text auf Schlüsselwörter ab, überfliegt den Rest. Dieses oberflächliche Scannen sei auf Geschwindigkeit angelegt. Das tiefe Eintauchen ins Geschriebene dagegen werde eher vom Papier gefördert.
Blindes Vertrauen in Technik ist gefährlich
Passend dazu können Forscher zeigen, dass lange Informationstexte aus Büchern und von Papier im Gehirn besser erinnert werden, als wenn sie aus dem Netz gefischt wurden. Wolf warnt, dass sich das Gehirn durch die neuen digitalen Lesegewohnheiten insgesamt daran gewöhnen könnte, flach und ungeduldig zu denken. Sie sieht die Gefahr, dass Menschen so einen Teil ihrer Fähigkeit zur Analyse komplexer Fragen verlieren. Ein Risiko auch fürs Mitdenken in der Politik, für Wahlen und Demokratie. Aber bewiesen, räumt Wolf ein, ist das noch nicht.
In eine ähnlich mahnende Richtung zielt die "Stavanger-Erklärung" von Anfang 2019. Maryanne Wolf hat sie unterzeichnet, genau wie Yvonne Kammerer vom Tübinger IWM. Darin fordern mehr als 130 Experten, das analoge Lesen weiterhin zu fördern. Parallel sollten Schüler und Studenten lernen, auch am Bildschirm verständnisorientiert zu lesen. Und sie appellieren: Forscht weiter zu diesen Themen!
"Es gibt Hinweise, dass bei Zeitdruck das digitale Lesen von Sachtexten im Vergleich zum analogen nachteilig ist - ohne Zeitdruck nicht so", sagt die 37-jährige Kammerer.
"Ich glaube, wir sind an einem kritischen Punkt", mahnt US-Autorin Wolf. Blindes Vertrauen in Technik sei ein Fehler. "Wir sollten beim Umschwenken zum digitalen Lesen nicht so schnell vorwärts gehen wie bisher. Wir sollten uns Zeit nehmen, die Vorteile digitaler Medien zu erkunden, und gucken, wie wir die Nachteile umgehen."
Der Braunschweiger Professor Martin Korte spricht ebenfalls von einem "Übergangszustand". Als Pessimist mag der 54-jährige Neurobiologe nicht gelten. Handys und Tablets machten junge Menschen nicht per se dümmer als ihre Eltern - seien es die zweijährige Henriette oder heutige Teenager. Das Gehirn besitze eine alte Grundstruktur. "Wir haben kein Twitter-Gehirn, und wir haben auch kein Facebook-Gehirn. Wir haben die Gehirne von einer Horde von Steinzeitmenschen, die gewohnt sind, um eine Höhle herum zu leben", sagt er. "Das wird sich sicher nicht so schnell ändern. Wir werden sicher bestimmte neue Techniken und Kompetenzen erlernen und dafür andere verlieren."
Machen denn nun Handys und digitales Dauersurfen wirklich dumm? Hirnforscher Martin Korte neigt im dpa-Interview nicht zur Panik. Aber bei manchen Formen des Umgangs mit dem Internet gehen bei ihm rote Warnlichter an.