Editorial: Freiheit versus Datenschutz
Darf man den einzelnen verfolgen, um Neuinfektionen mit Covid-19 zu verhindern, auch wenn der Datenschutz dabei auf der Strecke bleibt?
Foto: Picture Alliance / dpa
Die Lage um das neue Coronavirus hat sich in den letzten zwei
Wochen dramatisch verändert: China, wo die Pandemie ihren Ursprung
nahm, ist nach eigenen Angaben
seit vier Tagen virenfrei.
Zwar meldete China seit dem 18. März täglich jeweils zwischen 34
und 46 neue Covid-Fälle. Jedoch handelt es sich hier - bis auf eine
Ausnahme - nicht um Ansteckungen innerhalb Chinas, sondern um infizierte
Rückkehrer und Gäste aus dem Ausland. Und die einzige festgestellte
Neuinfektion innerhalb Chinas hat ebenfalls einen Heimkehrer als
Infektionsquelle, der wohl durch die strengen Covid-Screenings an den
chinesischen Flughäfen gerutscht war: Bis heute wurden nur Heimkehrer
aus den besonders betroffenen Regionen auf Covid getestet, ab morgen
sollen ausnahmslos alle Passagiere auf allen Flügen den entsprechenden
Test machen müssen. "Covid-Test" meint dabei mitnichten nur Fiebermessen
und das Ausfüllen eines Fragebogens, sondern den Virennachweis mittels
PCR.
In denselben vier Tagen gab es außerhalb Chinas über 100 000 nachgewiesene Ansteckungen mit Covid-19 - mehr, als die 81 000 Ansteckungen, die insgesamt innerhalb Chinas nachgewiesen wurden. Zwar geben die chinesischen Zahlen, insbesondere die aus Wuhan, nur die berühmte Spitze des Eisbergs wieder: Weil das medizinische System insgesamt überlastet war, wurden zumindest anfangs nur die besonders schweren Fälle auf das Virus getestet. Alle anderen wurden damals zu Heimquarantäne verbannt. Nur: Auch in den derzeit besonders schwer betroffenen Regionen in Italien, Spanien, Frankreich, einigen Bundesstaaten der USA und im Iran, wird mit Sicherheit ähnlich schlecht getestet wie damals in Wuhan, in einzelnen der betroffenen Regionen wahrscheinlich sogar noch schlechter. Über Kriegsgebiete wie Syrien, von denen es bis heute keine Zahlen gibt, reden wir lieber gar nicht erst.
Bei den Todesfällen ist das Bild noch deutlicher. Ich verzichte hier aus Pietät darauf, ins Detail zu gehen. Nur soviel: Die frühzeitige Warnung zahlreicher Experten, dass das neue Coronavirus in Europa wegen des im Vergleich zu den chinesischen Großstädten deutlich höheren Durchschnittsalters der Bevölkerung auf eine viel verwundbarere Bevölkerung treffen würde, hat sich leider, leider bewahrheitet.
"Nur" lineares Wachstum in einigen Ländern
Darf man den einzelnen verfolgen, um Neuinfektionen mit Covid-19 zu verhindern, auch wenn der Datenschutz dabei auf der Strecke bleibt?
Foto: Picture Alliance / dpa
Einige weitere asiatische Staaten haben es zwar noch nicht geschafft,
die Seuche wieder zurückzudrängen, aber zumindest das verheerende
exponentielle Wachstum zu stoppen. Japan, das seine Grenzen bis heute
offen gehalten hat, ist zwar ebenfalls inzwischen bei über
1000 bestätigten Fällen angekommen, hat aber nie mehr als
100 neue Fälle am Tag gemeldet. Konsequente Hygiene - dazu
gehört beispielsweise nicht nur das Ausziehen von Schuhen bereits vor
dem Haus, sondern auch das Tragen der in Europa wegen falschem Stolz immer
noch verpönten Atemschutzmasken in der Öffentlichkeit - reduziert hier
die Ansteckungsraten im Land wohl so weit, dass kein genereller
Shutdown nötig war.
Südkorea hat einen größeren Covid-Ausbruch, der durch Massen-Gottesdienste einer christlichen Kirche passiert war, durch konsequentes Testen und Nachverfolgen von Sozialkontakten wieder unter Kontrolle bekommen.
Kontakte-Erkennung per App
Dem Stadtstaat Singapur, der einen großen chinesischen Bevölkerungsanteil hat, ist es durch Hygienemaßnahmen und Kontaktenachverfolgung ebenfalls gelungen, das Wachstum der Covid-Fälle im Zaum zu halten. Allerdings nahmen in den letzten Tagen die aus Europa und Amerika eingeschleppten Fälle immer weiter zu, sodass sich das Land jetzt doch gezwungen sah, die Grenzen generell zu schließen.
Um Ansteckungen innerhalb des Landes einzudämmen, hat Singapur die App TraceTogether entwickelt: Diese benutzt Bluetooth, um alle anderen Personen zu erfassen, in deren Nähe man sich aufgehalten hatte. Wird bei einer dieser Personen später Covid diagnostiziert, enthält man eine entsprechende Warnung, wann und wo dieser Kontakt war. Dadurch können dann schnell geeignete weitere Schutzmaßnahmen (Isolation, Test) eingeleitet werden.
TraceTogether kommt nach der Datenschutzerklärung ohne große Datenspeicherung auf einem zentralen Server aus und gibt so der Regierung keine zusätzlichen Überwachungsmöglichkeiten. Bei der Registrierung für TraceTogether muss man zwar seine Telefonnummer angeben und diese wird auch verifiziert und zentral gespeichert. Nur: Die Daten hat die Regierung aufgrund der Benutzerverifikation beim Erwerb einer SIM-Karte eh schon.
Bei der Registrierung erhält jeder Nutzer zudem eine eindeutige ID, diese wird aber nie direkt ausgetauscht. Wenn sich zwei Smartphones via Bluetooth "sehen", tauschen diese zwar ein Token aus, in dem die eindeutige ID aber verschlüsselt ist. Da die Verschlüsselung zudem jedes Mal mit einem anderen Salt erfolgt, unterscheiden sich die Tokens bei jedem erneuten Kontakt der Smartphones. Ein Tracing: "Ah ha, ich sitze heute mit denselben fünf Menschen in der U-Bahn wie gestern auch" ist daher nicht möglich.
Jedes Smartphone sammelt die Tokens der Nachbarn, die es "gesehen" hat, streng lokal. Wird nun bei einem Nutzer von TraceTogether Covid diagnostiziert, kann er die von seiner App gesammelten Daten an das Gesundheitsministerium geben. Nur diese verfügen über den geheimen Schlüssel zur Entschlüsselung der Tokens und können dann über die darin enthaltenen IDs die Kontaktpersonen entsprechend identifizieren und warnen.
Nach Angaben auf der Website von TraceTogether wurde die App seit ihrem Start vor zwei Tagen bereits 600 000 mal installiert. Das entspricht gut zehn Prozent der Bevölkerung Singapurs.
Datenschutz versus Freiheit
Unzweifelhaft gibt es staatliches Missbrauchspotenzial für TraceTogether dahingehend, dass bei verhafteten Straftätern die Herausgabe der gesammelten Tokens ebenfalls verlangt werden könnte, um über die Auswertung der Kontakte mögliche Komplizen zu identifizieren. Ein Staatstrojaner könnte die Tokens auch abgreifen, ohne dass der Betroffene das merkt. Also: Selbst, wenn TraceTogether für sich genommen datenschutzmäßig sauber implementiert sind, besteht dennoch ein gewisses Missbrauchspotenzial. Andererseits können die Behörden in dem Fall, dass sie sowieso zwei mögliche Straftäter per Staatstrojaner überwachen, von deren Treffen noch viel mehr Daten gewinnen, insbesondere auch Audiomitschnitte, die TraceTogether natürlich nicht anfertigt.
Wegen des Corona-Virus kollidieren verschiedene Grundrechte: Tut man nichts, geht das Sterben weiter bzw. wird sogar noch schlimmer. Damit wäre natürlich das in Art. 1 zusammen mit der Menschenwürde verbriefte Recht auf Leben maximal verletzt. Schließt man Vergnügungsstätten, für den unmittelbaren Lebensbedarf nicht nötige Geschäfte und erlässt ein Kontaktverbot, wird die Ausbreitung des Virus zumindest verlangsamt, hoffentlich sogar eingedämmt. Doch wird dadurch massiv in die persönliche und wirtschaftliche Freiheit eingegriffen. Lockert man hingegen den Datenschutz für Apps wie TraceTogether, besteht vielleicht die Chance, der weiteren Ausbreitung des Virus ebenfalls Einhalt gebieten zu können, ohne die extremen Einschränkungen eines totalen Shutdown. Es sollte daher in Betracht gezogen werden, Apps wie TraceTogether auch in Deutschland oder Europa einzuführen.