Big Brother

Massenklage gegen Datenvorratsspeicherung

Bürger unter "Generalverdacht"
Von dpa / Marie-Anne Winter

Es soll die "größte Verfassungsbeschwerde in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" werden. Das jedenfalls propagieren die rührigen Bürgerrechtler, die im "Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung" gegen das Gesetz zur sechsmonatigen Speicherung sämtlicher Telefon- und Internetdaten mobil machen, das in dieser Woche im Bundestag verabschiedet werden soll. Mit rund 7 000 Vollmachten potenzieller Kläger sind sie zum kollektiven Marsch nach Karlsruhe gerüstet.

Ob das fürs Guinness-Buch reicht, weiß zwar nicht einmal das Bundesverfassungsgericht. Doch rekordverdächtig ist die Massenklage allemal: An der "Geburtsstunde" des Datenschutzes - beim Volkszählungsurteil im Dezember 1 983 - sollen rund 1 300 Kläger beteiligt gewesen sein. Überhaupt scheint das historische Verfahren, mit dem Karlsruhe lange vor der Entstehung des Internets das Recht auf "informationelle Selbstbestimmung" aus der Taufe gehoben hatte, Pate für den aktuellen Protest zu stehen. Damals wurde zum Massenboykott des Zensus aufgerufen - und auch am Dienstag wollen die Kritiker möglichst viele Gegner auf die Straße bringen.

Massenkundgebungen für den Datenschutz? Eigentlich schien der Mehrheit der Bevölkerung der Schutz persönlicher Daten - einmal abgesehen vom Steuergeheimnis - so gleichgültig zu sein wie nie zuvor. Soziale Internet-Netzwerke wie MySpace oder StudiVZ leben vom wachsenden Offenbarungseifer. Und im anhaltenden Gefühl, von Terroranschlägen bedroht zu sein, räumen die Bürger ohnehin den Ermittlern die Vorfahrt ein - Datenschutz gilt eher als Sicherheitsrisiko.

Bewährungsprobe für den Datenschutz

Dabei dürfte die Bewährungsprobe des Datenschutzes erst noch bevorstehen. Denn die Volkszählung war harmlos - verglichen mit den gigantischen Vorhaben, ein halbes Jahr lang sämtliche Spuren der elektronischen Kommunikation eines ganzen Landes zu speichern. Der Verband der Informationswirtschaft BITKOM hat errechnet, die Verkehrsdaten eines größeren Internetproviders umfassten pro Jahr bis zu 40 000 Terabytes - oder 40 Kilometer gefüllter Aktenordner. "Das ist Big Brother pur", schimpfte kürzlich der Grünen-Rechtspolitiker Jerzy Montag.

Juristisch ist weniger die Datenmasse als vielmehr ihr Detailreichtum interessant. Gespeichert werden soll außer den Inhalten der Gespräche oder Mails so ziemlich alles: Teilnehmer und Dauer von Telefonaten, E-Mail-Verkehr, Surfspuren im Internet - sogar der Standort, von dem aus per Handy telefoniert wurde. Wie bei einem Schnittmusterbogen muss die Polizei nur den Linien folgen - und schon hält sie ein detailgenaues Profil der Persönlichkeit in der Hand.

Mehr als einmal hat das Gericht es hingenommen, dass Grundrechtseingriffe - wenn auf der anderen Waagschale die Sicherheit liegt - gerechtfertigt sein können. Doch mit dieser Rechtfertigung sieht es bei den Speicherplänen nicht allzu gut aus. Zwar bezweifeln auch die Kritiker nicht, dass sich damit schwere Straftaten aufklären lassen. Allerdings heiligt der Zweck aus ihrer Sicht nicht jedes Mittel: Die staatliche Vorratshaltung höchstpersönlicher Daten von Menschen, die keinerlei Verdacht trifft, geht aus ihrer Sicht zu weit. "Alle Bürger dem Generalverdacht auszusetzen, sie seien Straftäter, ist unerträglich", kritisierte etwa der Deutsche Anwaltverein.

Schwerer Eingriff in das Fernmeldegeheimnis

Die Kritik könnte in Karlsruhe auf offene Ohren treffen. Verbindungsdaten sind sensibel, der Zugriff darauf stellt einen schweren Eingriff in das Fernmeldegeheimnis dar, entschieden die Richter 2003. "Insofern genügt es verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, dass die Erfassung der Verbindungsdaten allgemein der Strafverfolgung dient" - vorausgesetzt sei ein "konkreter Tatverdacht". Ähnlich liest sich der Beschluss zur Rasterfahndung vom vergangenen Jahr: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erlaube "intensive Grundrechtseingriffe erst von bestimmten Verdachts- oder Gefahrenstufen an". Der Datenzugriff "ins Blaue hinein" ist unzulässig.

Ob jedoch das letzte Wort wirklich in Karlsruhe gesprochen wird, ist noch unklar. Denn das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung geht auf eine EU-Richtlinie zurück, mit der die Union womöglich ihre Zuständigkeit überschritten hat; eine Klage Irlands ist beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig. Auch inhaltlich war aus Luxemburg bereits Skepsis zu hören: Juliane Kokott, Generalanwältin beim EuGH, merkte kürzlich in einem Verfahren zum spanischen Recht an: "Man kann daran zweifeln, ob die Speicherung von Verkehrsdaten - gewissermaßen auf Vorrat - mit den Grundrechten vereinbar ist, insbesondere da dies ohne konkreten Verdacht geschieht."

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